Mein 12-jähriger Sohn ist Autist. – Nein, ich schreibe lieber: Er hat autistische Wahrnehmung. So hatte es auch vor Jahren der Experte formuliert, der die Diagnose stellte – übrigens selber ein Mensch mit autistischer Wahrnehmung. Und damit ist auch bereits gesagt, um was es sich bei Autismus handelt: Nämlich ganz einfach um eine Art der Wahrnehmung, die anders ist als bei den meisten anderen Menschen.
Ich vermeide also bewusst solche wertenden Zuschreibungen wie „normale“ oder „anormale“ Wahrnehmung, spreche auch nicht wie viele andere von „autistischer Störung“ oder sogar „autistischer Behinderung“.
Als Autist nimmt man die Welt und die Menschen also einfach anders wahr. Leider haben Autisten das Pech, in einer Welt zu leben, die auf Menschen mit sogenannt „neurotypischer“ (also nicht-autistischer) Wahrnehmung ausgerichtet ist, und damit eben auch: das Schulsystem, das Arbeitsleben und das soziale Miteinander.
Mit der anderen Wahrnehmung sind dann auch Verhaltensweisen verbunden, die irgendwie „anders“ sind und bei neurotypischen Menschen oftmals Befremden auslösen, besonders, wenn diese die Ursachen dafür nicht kennen.
Doch es gibt nicht den Autismus, sondern ein riesiges Spektrum, wie sich diese andere Wahrnehmung äussern kann.
Eine leichte Form des Autismus nennt man Asperger-Syndrom. Viele Asperger-Autisten leben relativ unauffällig unter uns. Was ihre Andersartigkeit auszeichnet, ist ein verstärktes Angewiesensein auf klar geregelte Abläufe, eine eingeschränkte Flexibilität, um mit komplexen und unvorhergesehenen Situationen umzugehen sowie die Schwierigkeit, aus den Gesichtern anderer Menschen Stimmungen und Gefühle herauszulesen. Diese Menschen sind häufig hochintelligent. Die meisten haben ein Spezialthema, über das sie ein grosses Wissen angesammelt haben.
Bei meinem Sohn ist das etwas anders. Er ist kein typischer Asperger. Als ihm bei einer weiteren Abklärung eine „leichte geistige Behinderung“ diagnostiziert wurde, war ich – trotz des unschönen Begriffes – irgendwie erleichtert, weil mir bestätigt wurde, was ich schon lange gedacht hatte: Nämlich dass es zwecklos ist, ihm in der Regelschule in mühsamer Einzelförderung den üblichen Lernstoff beizubringen. Die Diagnose öffnete ihm die Tür zur Heilpädagogischen Schule, in der jedes Kind individuell gefördert wird. Es gibt keinen festen Lehrplan, auch keine einheitlichen „Lernziele“, man lernt stattdessen sehr praxisbezogen und vor allem die Dinge, die ein Mensch zur Bewältigung seines Alltagslebens braucht: Einkaufen, Kochen, Backen, Velofahren, Werken, einen Kiosk führen, ausserdem Rhythmik und Musik. Hier gibt es keine „Behinderungen“, sondern einfach verschiedene Begabungen.
Neulich habe ich einen Begriff gelesen, den ich sehr schön fand: Anstatt „geistig behindert“ hiess es da: „anders begabt“. Und das trifft es genau: Die Kinder, denen ich in der Schule meines Sohnes begegne, entsprechen zwar nicht dem Massstab, der an Kinder üblicherweise angelegt wird. Aber sie sind alle begabt, jedes hat seine eigenen Fähigkeiten und Talente. Wer nicht erwartet, dass diese Kinder einer gewissen „Norm“ entsprechen müssen, kann diese Begabungen auch sehen.
Wenn ich das Zimmer meines Sohnes aufräume und die Playmobil-Figuren abstaube, aus denen er sich in seiner eigenen Phantasie eine ganze Welt mit ihren ganz eigenen Geschichten aufgebaut hat, dann ahne ich etwas davon.
Vor einigen Jahren hat in Dänemark ein Informatiker, Vater eines autistischen Sohnes, eine Firma gegründet, die nur Autisten anstellt. Diese Firma macht sich die Begabungen von Autisten zunutze, wie z.B. ihren analytischen Verstand, ihre schnelle Auffassungsgabe, hohe Detailgenauigkeit, extreme Konzentrations- und Fokussierungsfähigkeit sowie ihre ausgeprägte Hartnäckigkeit und Ausdauer. Auch in der Schweiz gibt es inzwischen mehrere solcher Informatik-Unternehmen. (z.B. http://www.asperger-informatik.ch)
Vielleicht kann mein Sohn später auch einmal seine speziellen Begabungen einer Firma zunutze machen. Wer weiss, vielleicht wird er Entwickler bei Playmobil?
P.S.: Zum diesjährigen Eurovision Song Contest schickt Finnland eine Band mit vier Musikern, die alle entweder autistische Wahrnehmung haben oder von Trisomie 21 betroffen sind. Eben anders begabt.
Vielen Dank liebe Frau Schultz, für diesen Artikel. Er öffnet Menschen, denen das Verhalten eines Autisten eher fremd ist, auf sympathische Art die Augen. Und lässt sie eine ziemlich große, spannende Welt entdecken. Schade ist, dass ’normale‘ Menschen sich selbst auch einschränken, indem sie sich sperren für so vieles, was irgendwie ‚anders‘ ist.
Vor ca. 10 Jahren erschien ein Buch eines Briten, der die Wahrnehmung, die ‚Denke‘ und den Alltag eines Asperger-Autisten sehr schön dargestellt hat. Als Krimi!
„Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone“, der Autor ist Mark Haddon.
Es hat sich zum Bestseller entwickelt. Ich habe das Buch verschlungen. es ist mehr als ein Krimi. Es öffnet neue Mesnchen- Welten
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