Es ist der Morgen des 20. März 2015. Kein gewöhnlicher Tag. Heute ist Sonnenfinsternis.
Ich habe es versäumt, mich um eine Schutzbrille zu bemühen. Ich habe gedacht, ich hätte noch eine von 1999, aber ich habe sie zuhause nicht mehr gefunden. So eine Sonnenfinsternis gibt es ja nicht alle Tage. Es ist schon irgendwie etwas Spezielles. Und man weiss ja nie, ob man die nächste noch erleben wird. Eine totale Sonnenfinsternis müsste etwas Tolles sein. Leute, die das schon erlebt haben, berichten, es sei ein absolut eindrückliches Erlebnis. Ein riesiges schwarzes Auge starre einen an. Das haut einen total um, auch wenn man es naturwissenschaftlich erklären kann. Spitzbergen wäre jetzt wirklich ein sehr imposantes Erlebnis gewesen, allein schon wegen der Landschaft dort. Aber leider fehlt mir sowohl die Zeit als auch das Kleingeld, um eine solche Reise zu unternehmen.
So überlege ich mir, wie ich diesen Vormittag sinnvollerweise verbringen könnte. Den ersten Termin habe ich erst gegen 11 Uhr. Hätte ich eine Schutzbrille gehabt, wäre ich wahrscheinlich Zuhause geblieben , hätte diverse Büroarbeiten gemacht und dabei die Sonnenfinsternis mitverfolgt. Nun könnte ich den Stand des Mondes vor der Sonne wenigstens im Livestream anschauen. Aber ich habe keine Lust zu Büroarbeiten, dann habe ich das Gefühl, den Vormittag doch irgendwie vertrödelt zu haben. Ich entscheide, etwas wirklich Sinnvolles zu tun und ins nahegelegene Altersheim zu gehen, um dort ein paar Leute zu besuchen. Ich bin sowieso mit meinen Seelsorgebesuchen im Rückstand, die Leute warten schon lange auf mich.
Ich besuche insgesamt vier Personen, die alle über meinen Besuch sehr erfreut sind. Ich lasse sie erzählen, wie es ihnen geht. Eine Frau ist schwer sehbehindert geworden und doch dankbar für alles, was sie noch machen kann. Mit Hilfe eines Gerätes kann sie noch lesen. Die über 90-Jährige sagt, die Zeitung interessiere sie immer weniger, dafür lese sie jetzt umso mehr in der Bibel. Dann besuche ich einen Mann, dessen Frau ich schon beerdigt habe. Er ist bettlägerig und kann nur noch undeutlich sprechen. Trotzdem teilt er seine Gedanken mit mir, z.B. über die Frage, warum Gott Kriege zulässt. Allen, die ich besuche, lese ich aus der Bibel vor. Heute habe ich kurze Passagen aus verschiedenen Psalmen ausgewählt. So heisst es z.B. im Psalm 36: Denn bei dir ist die Quelle des Lebens und in deinem Lichte sehen wir das Licht. Am Schluss bete ich mit ihnen noch das Unservater. Ein Gebet, das alle mitsprechen können und das immer passend ist.
Zwischen den Besuchen blicke ich aus dem Fenster und merke, wie sich das Licht draussen langsam verändert. Um halb Elf trete ich nach draussen, um mit dem Fahrrad zu meinem nächsten Termin zu fahren. Das Licht taucht die Umgebung in eine fast magische Stimmung, es ist kühler und die Schatten sind weich. Das erinnert mich an 1999, als ich diese Stimmung in den Engadiner Bergen erleben durfte, mein Sohn war damals ein paar Monate alt. Heute kann er das Schauspiel am Gymnasium mitverfolgen.
Auch wenn ich nicht in die Sonne schauen kann, fühle ich mich auf eine besondere Weise berührt und erfüllt. Während ich durch die Strassen fahre, freue ich mich, diesen besonderen Moment doch irgendwie erleben zu dürfen. Und ich bin auch froh, diesen Morgen auf eine sinnvolle Art verbracht zu haben – sinnvoll und bereichernd für mich und wohl auch für andere.