Die alte und die neue Bibel

Ich habe mir eine Bibel gekauft. Für eine Theologin klingt das vielleicht etwas ungewöhnlich; man sollte meinen, dass ich schon eine habe. Das stimmt auch. Aber ich habe eine neue Bibel gebraucht, weil meine alte langsam am auseinanderfallen ist. Auch wenn ich mehrere Bibelausgaben und –Übersetzungen besitze, ist dies eben doch ein besonderes Exemplar.

Die alte Bibel habe ich mir im Jahr 1985 gekauft, als ich gerade mein Theologiestudium angefangen hatte. Es handelt sich um eine Lutherbibel in der revidierten Fassung von 1984, sie ist also damals ganz neu erschienen. Sie war, unter Wahrung der typischen Luther-Sprache, an die heutige Sprache neu angepasst worden, nachdem man festgestellt hatte, dass die alte Lutherübersetzung immer schwerer verständlich wurde.

So begann ich also mein Theologiestudium mit einer nagelneuen Bibel. Diese Bibel hat mich durch mein ganzes Studium hindurch begleitet – und danach auch durch mein ganzes bisheriges Pfarrerinnenleben, also inzwischen insgesamt 30 Jahre lang. Ich wundere mich, dass dieses Buch nicht schon längst völlig zerfleddert ist.

Auch wenn ich häufig andere Bibelübersetzungen verwende und neuerdings auch hin und wieder auf die elektronische Bibel zurückgreife, ist doch diese Ausgabe diejenige, die ich auch heute noch am meisten zur Hand nehme. Ich gebe zu, dass ich auch nach 27 Jahren in der Schweiz mich nie wirklich an die Zürcher Übersetzung gewöhnen konnte. Da liegt mir die Einheitsübersetzung näher oder, wenn es zum Vorlesen sehr gut verständlich sein soll, auch mal die „Gute Nachricht“ im heutigen Deutsch. Doch die gute alte Lutherbibel ist mir nach wie vor im Wortlaut am vertrautesten.

Die Formulierung aus Jesaja 43: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! klingt für mich einfach flüssiger, weniger sperrig und auch irgendwie poetischer als z.B. das Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir  in der Version der Einheitsübersetzung. Aber ich bin mir bewusst, dass es hier vor allem um Gewohnheiten und persönliche Vorlieben geht.

Im Theologiestudium war es sowieso üblich, mit dem Urtext auf dem Pult in der Vorlesung zu sitzen, und es gab immer Leute, die mit der grössten Selbstverständlichkeit in der Biblia Hebraica oder dem Novum Testamentum Graece herumblätterten, so als seien sie in der eigenen Muttersprache geschrieben. Ich kenne aber wenig Theologiestudierende, die nicht öfters mehr oder weniger verstohlen die deutsche Übersetzung zur Hilfe nahmen.

Nun habe ich also eine neue Bibel, ebenfalls wieder eine Lutherbibel. Es ist mir nicht leicht gefallen, mein altes Exemplar sozusagen in Pension zu schicken. Auch wenn die neue Bibel eigentlich den gleichen Text hat, ist sie für mich doch anders, noch etwas fremd und eben noch nicht so ganz „meine“. In meiner alten Bibel sind so viele Spuren zu entdecken von meiner Arbeit mit diesen Texten. Notizen am Rand, alle mit Bleistift angefertigt, Markierungen von besonders wichtigen Stellen, Striche, wo ein bestimmter Textabschnitt anfängt und aufhört, Einrahmungen wichtiger Stellen, die Nummerierung der sieben Schöpfungstage, ein dicker Strich beim „geschichtlichen Credo“ in Deuteronomium 26. Auch Spuren des Pfarramtes sind gut sichtbar: Pfeile und Striche, wo jeweils eine Lesung beginnen und enden sollte, die Markierung von Psalmen, die sich für Lesungen in der Seelsorge besonders gut eignen. Manchmal auch durchgestrichene Passagen, die ich beim Vorlesen gerne auslasse, wie z.B. im ansonsten wunderschönen Psalm 139 die Verse 19 – 22, in denen hasserfüllt den Gottlosen der Tod gewünscht wird. Und manche Seiten sind bereits zerfleddert oder sogar etwas eingerissen, z.B. bei Lukas 2, an der ich jede Weihnacht Lesezeichenkleber angebracht und wieder entfernt habe.

An dieser Bibel ist meine persönliche Beziehung zu diesem Buch sichtbar geworden. Ich sage aber ganz offen, dass ich keine Fundamentalistin bin.  Die Bibel ist meiner Ansicht nach weder vom Himmel gefallen noch von Gott diktiert worden. Sie wurde von Menschen geschrieben. Insofern ist sie für mich ein Gebrauchs- und Forschungsgegenstand. Die Menschen haben darin ihre Lebens- und Gotteserfahrungen verarbeitet. Darum sind diese Texte auch oft so spannend, bewegend, berührend, manchmal allzu menschlich, mal erbaulich und manchmal eben auch verstörend. Sie erzählen mir, wie Menschen nach Gott suchten und fragten, wie sie mit Gott rangen und immer wieder auch Gott begegneten, Wunder erlebten und neue Lebensperspektiven fanden. Es ist ein Buch, mit dem ich mich schon über die Hälfte meines Lebens auseinandersetze, mich daran reibe, manchmal auch innerlich streite, um doch immer wieder Überraschendes, Berührendes und Neues darin zu finden. Und für mich grenzt es schon fast an ein Wunder, dass ich in diesen uralten Texten immer wieder Stoff entdecke, den ich in Gesprächen und Predigten entfalten und mitteilen kann, der neue Denkanstösse hervorbringt, die ich mit anderen Menschen teilen und für unser Leben fruchtbar machen kann.

Nun werde ich mit der neuen Bibel unterwegs sein. Mit der Zeit wird auch sie immer mehr Spuren des Gebrauches bekommen. Aber ich werde nach und nach meine Eintragungen aus der alten Bibel in die neue übertragen. Auf diesen Erfahrungsschatz möchte ich nicht verzichten.

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Dieser Text wird im Mai als Editorial der „Reformiert“-Gemeindeseite, Ausgabe Thierachern, Wichtrach, Gerzensee und Kirchdorf erscheinen.

Ein Gedanke zu “Die alte und die neue Bibel

  1. Debora Stulz

    „Bittet, so wird euch gegeben werden, suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan werden“, Spruch MT 7/7…aus der Zürcher Bibel Auflage 1971 / Geschenk zu unserer kirchlichen Trauung von Pfarrer Ulrich Hutzli am 30. April 1977. Wir haben gebeten und es wurde uns viel aber nicht alles gegeben worum wir gebeten hatten, wir haben gesucht aber nicht immer alles gefunden, wir haben angeklopft, es wurde uns nicht immer aufgetan….“Seid fröhlich in der Hoffnung, geduldig in der Trübsal, beharrlich im Gebet“….Römer 12/12…zweiter Bibelteil zu unserer Trauung. Ulrich Hutzli war ein kluger Mann! Die Bibel hat keinen Rücken mehr, ist hüben und drüben farbig angestrichen, hat lockere und geknickte Seiten noch und noch, ich will (noch) keine Neue…:)

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