Der Puddingzug

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Es sind meine schönsten Kindheitserinnerungen: In meinen ersten sechs Lebensjahren verbrachten wir unsere Ferien jeden Sommer im Engadin, in einem kleinen idyllischen Dorf mit dem Namen Cinous-chel. Im Garten des Hauses stand eine Schaukel, auf der ich mit der Zeit lernte, alleine zu schaukeln. Abends wurden die Kühe von der Alp an unserem Haus vorbeigetrieben. Wir liefen dann jeweils hinaus und riefen: „Die Kühe kommen!“ Meine Schwester und ich wurden dann mit dem Milchkübel zu einem kleinen Häuschen geschickt, um frische Milch zu holen. Und zu einer bestimmten Zeit am Abend läuteten die Glocken der kleinen Kirche, die direkt gegenüber unserem Haus stand. Manchmal durften wir auch zuschauen, wie grosse Buben im Turm das Glockenseil zogen.

Ein fester Bestandteil meiner Erinnerungen ist auch das rote Bähnlein, das mehrmals am Tag oberhalb unseres Hauses vorbeifuhr. Wenn wir es rechtzeitig merkten, liefen wir die Anhöhe hinauf und winkten den Passagieren zu. Wir freuten uns sehr, wenn jemand zurückwinkte. Manchmal waren die Waggons aber aus Holz und ohne Fenster. „Das ist ein Güterzug.“, wurde mir dann erklärt. Und manchmal waren auf den Waggons grosse, runde Behälter befestigt. „Da ist Pudding drin.“, sagte mein Vater. Das erschien mir logisch. Schliesslich sah der runde Tank fast so aus wie ein umgestürzter Pudding. Und einmal, als aussen am Tank etwas verschmiert war, sagte meine Schwester: „Schau mal, da ist sogar etwas Pudding ausgelaufen!“. Jedesmal, wenn der Zug mit den runden Behältern vorbeifuhr, sagten wir: „Schau mal, ein Puddingzug!“.

Ich war dann jedesmal etwas traurig, wenn wir nach den Ferien in das graue Frankfurt zurückfuhren. Ich kam mir vor wie Heidi, die auch nach Frankfurt musste und dort Sehnsucht nach den Bergen hatte.

Als ich sieben Jahre alt war, gingen wir nicht mehr ins Engadin in die Ferien, sondern ans Meer, nach Spanien. Dort gefiel es mir auch gut. Es war einfach alles ganz anders.

Die Jahre vergingen. Ich kam für den Rest meiner Kindheit nie mehr ins Engadin. Die Erinnerungen aber blieben: An die Schaukel, das Kirchlein, die Kühe, das Milchhäuschen und an das rote Bähnlein mit dem Puddingzug.

Als Erwachsene zog es mich dann in die Schweiz – nicht zuletzt auch wegen dieser schönen Erinnerungen. Ich besuchte auch das Engadin. Als erstes sah ich mir das Dorf Cinuos-chel an. Es sah fast noch genauso aus wie früher. Es kam mir nur alles viel kleiner vor, als ich es in Erinnerung hatte. Und auch den Puddingzug gab es noch.

Wie es der Zufall – oder auch die Fügung – wollte, wurde meinem Mann und mir als erste Pfarrstelle eine Stelle im Engadin angeboten, die wir dann auch annahmen. Wir wohnten in einem grösseren Dorf. Auch in der kleinen Kirche von Cinuos-chel hielt ich manchmal Gottesdienst. Die Rhätische Bahn wurde zu einem festen Bestandteil meines Lebens.

Als ich dann irgendwann mal so überlegte, wurde mir klar, dass in diesen grossen runden Tanks doch eigentlich gar kein Pudding drin sein kann. Und plötzlich dämmerte es mir, dass die Rede vom Puddingzug natürlich einer der typischen Witze meines Vaters gewesen sein musste. Natürlich konnte er damals nicht wissen, dass ich als Sechsjährige ihm alles geglaubt hatte. Der Gedanke an den Puddingzug hatte sich im Laufe der Jahre in meinem Gedächtnis konserviert, ohne dass ich darüber nachgedacht hätte.

Die Moral von der Geschichte? Man soll nicht alles glauben, was einem so gesagt wird. Man sollte immer den eigenen Kopf gebrauchen, nachdenken, hinterfragen und sich seine eigenen Urteile bilden. Das ist zu einem wichtigen Motto in meinem Leben geworden.

Den Witz vom Puddingzug nehme ich meinem Vater aber nicht übel. Dadurch konnte ich mir in meiner ganzen Rationalität noch ein Stück meiner kindlichen Vorstellungswelt erhalten. Denn der runde Tank der Rhätischen Bahn ist und bleibt für mich ein Puddingzug.

 

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