Als ich vor über 15 Jahren an meinen jetzigen Wohnort zog, fiel mir schon nach ein paar Tagen ein Schwarm Vögel auf, der über den Dächern dieser Gegend seine Kreise zog.
Schon bald erfuhr ich, was es damit auf sich hatte: Es waren weisse Brieftauben, die gegenüber der Kirche ihren Taubenschlag hatten. Die Tauben gehörten Werner, einem liebenswürdigen alten Mann.
Werner war bei vielen Leuten im Dorf bekannt. Er war viel draussen unterwegs, werkelte immer irgendwo herum, mähte bei der Kirche und auf dem Friedhof den Rasen und kümmerte sich mit Hingabe täglich um seine Tauben. Die Tauben waren sein Ein und Alles.
Werner war ein durch und durch lieber Mensch. Er wirkte immer gut gelaunt, hatte stets ein freundliches Wort auf den Lippen, war meistens zu einem Schwatz aufgelegt und hätte keiner Fliege etwas zuleide tun können.
Täglich konnte man ihn auf seinem „Töffli“* durchs Dorf fahren sehen. Er brachte seine Tauben zu Hochzeiten und Konfirmationen in der Region, damit man sie dort in einem feierlichen Akt fliegen lassen konnte.
Den Tauben kommt in der jüdisch-christlichen Tradition eine besondere Bedeutung zu. In der Sintflutgeschichte ist es eine Taube, die mit einem Ölzweig im Schnabel den Menschen anzeigt, dass die Wassermassen nun zurückgehen, dass sie bald trockenes Land werden betreten können, dass das Leben auf der Erde also weitergehen wird. Die Taube ist ein starkes Symbol der Hoffnung. Daraus wurde später die Friedenstaube abgeleitet.
Daran denke ich fast täglich, wenn ich aus dem Fenster schaue und draussen die Tauben kreisen sehe. Dieser Anblick lässt mich im Alltag oft einen Moment lang innehalten.
Gestern musste ich Werner beerdigen. Vor einer Woche fand man ihn leblos neben seinem Taubenschlag liegen. Beim Rasenmähen hatte er einen plötzlichen Herzschlag erlitten. Jede Hilfe war zwecklos. Trotz seines hohen Alters hatte sich Werner bis zum Schluss seinen geliebten Tauben widmen können. Er starb bei der Tätigkeit, die er am liebsten machte.
Bei seiner Beerdigung war die Kirche voll bis auf den letzten Platz. Das halbe Dorf war gekommen, um Werner die letzte Ehre zu erweisen. Viele Leute sagten, solche Menschen wie Werner sollte es noch mehr auf der Welt geben.
Auf dem Friedhof bei seinem Grab flogen seine Tauben noch einmal in den Himmel. Sie flatterten kurz über die Gräber, zogen einen Kreis um den Kirchturm und verschwanden in der Ferne. Es war ein berührender Moment.
Die weissen Tauben werden unser Dorf nun verlassen. Ich werde sie sehr vermissen.
*Schweizerdeutscher Ausdruck für Moped
Nachtrag: Die Tauben sind doch geblieben! Werners Sohn hat sie übernommen. Nun denke ich jedesmal an Werner, wenn ich sie fliegen sehe.