Ankommen
Am Morgen, als ich den Rolladen hochziehe, sehe ich zum ersten Mal den Blick von der Terrasse. Jetzt bin ich wirklich über den roten Dächern Bolognas.
Um 9 Uhr muss ich in der Sprachschule sein. Den Weg dorthin durch die Altstadt finde ich schnell. Ich melde mich an der Rezeption. Sie sagen, der schriftliche Test, den ich Ihnen geschickt hatte, sei sehr gut. Sie wollen mir kaum glauben, dass ich bisher vor allem online Italienisch gelernt habe.
Mein Verhältnis zur italienischen Sprache ist wirklich etwas speziell. Da ich sehr viel italienischsprachige Musik höre, habe ich diese Sprache fast täglich im Ohr. Vom Italienischkurs, den ich vor vielen Jahren gemacht habe, ist nicht mehr viel übriggeblieben, darum habe ich vor 2 Jahren mit dem Online-Kurs “Babbel“ angefangen, der mir die Sprache wieder näher gebracht hat.
Nun habe ich bereits einen relativ grossen Wortschatz, der aber durch das Musikhören eher selektiv ist. So weiss ich z.B. genau, dass la rugiada der Morgentau ist und l’imbrunire die Abenddämmerung, kann mich aber kaum verständigen, wenn es darum geht, um eine Auskunft zu fragen. Das ist meine Hauptmotivation, um diesen Kurs zu machen.
Die Gruppe, in die ich zuerst eingeteilt werde, besteht aus einigen älteren Damen und Herren aus England, Schottland, Australien und Amerika. Das bedeutet, alle haben Englisch als Muttersprache. Es ist seltsam, Italienisch zu lernen mit Leuten, die mit englischem Akzent nach italienischen Worten suchen. In der Pause weiss ich nicht, ob ich nun Englisch oder Italienisch mit ihnen sprechen soll und bringe beide Sprachen durcheinander, so dass ich keine mehr richtig kann.
Nach der Pause werde ich in eine andere Gruppe umgeteilt, die etwas anspruchsvoller ist. Jetzt habe ich auch das Gefühl, etwas gefordert zu werden. Dieser Kurs ist international und sprachlich durchmischter, darunter auch jüngere Leute, d.h. so jung, dass ich mich eher alt fühle. Ich bin froh, dass in dieser Sprachschule die Gruppen nicht nach Alter eingeteilt werden, sonst wäre ich mit 50+ bereits in der Seniorengruppe.
Natürlich wird man gefragt, woher man kommt und warum man Italienisch lernt. Wenn ich meine Vorliebe für Cantautori erkläre und dabei den Namen Pippo Pollina erwähne, blicke ich wie erwartet in fragende Gesichter. Mir ist klar, dass der Sizilianer, der seit über 30 Jahren in der Deutschschweiz lebt, in Italien so gut wie unbekannt ist. Später sagt eine Lehrerin, sie kenne ihn. Sie habe eine Zeit lang in Wien gelebt. Klar, er ist eben vor allem in den deutschsprachigen Ländern bekannt.
In den letzten Wochen ist mir immer wieder der Gedanke gekommen: Bin ich nicht etwas bescheuert, dass ich in meinen wohlverdienten Ferien 4 Stunden pro Tag in eine Schule gehe und danach sogar noch Hausaufgaben machen muss?!? Aber so ein Kurs gibt mir eine Tagesstruktur, ich komme mit Leuten zusammen, ohne dass ein Gruppenzwang herrscht, habe noch genug Freizeit und ausserdem wollte ich ja schon lange mal intensiv Italienisch lernen.
Am Ende des Unterrichts bin ich todmüde. Ich gehe erst mal nach Hause und lege mich hin. Ich merke, dass ich noch nicht so richtig angekommen bin. Von Bologna gesehen habe ich immer noch nicht viel.
Nach einer Siesta begebe ich mich auf die berühmte Piazza Maggiore mit ihren vielen pompösen Palazzi und dem Neptunbrunnen.
Schliesslich besuche ich die Kirche St. Petronius mit ihrer unvollendet gebliebenen Marmorverkleidung und der schön-schauerlichen Höllendarstellung in ihrem Inneren.
Und am Abend mache ich, zum Sonnenuntergang auf der Terrasse sitzend, meine Hausaufgaben. Langsam komme ich an.