Das Leiden in der Welt
Es ist mein letzter ganzer Tag in Bologna, morgen Nachmittag sitze ich bereits im Zug nach Hause. Zeit, um noch letzte Besichtigungen zu machen.
Ich besuche die Kirche Santa Maria della Vita. In ihr findet sich eine ausserordentlich interessante Gruppe von Terrakottafiguren: Eine Pietà, eine Beweinung Christi aus dem Jahr 1463.
Aber anstatt der stillen Trauer, die sonst bei diesem Motiv zu sehen ist, drücken die Gesichter Klage und blankes Entsetzen aus. Maria Magdalena und die andere Maria werden ihrer Rolle als Klageweiber voll und ganz gerecht. Die Männer, offenbar Josef von Arimathäa und Nikodemus, blicken nur stumm und nachdenklich.
Morgen ist Karfreitag. Der Tag, an dem man des Leidens Christi gedenkt, und, wie ich finde, auch des Leidens in der Welt gedenken sollte, vor allem der Opfer von Unrecht und Gewalt. Angesichts dessen, was alles an Schrecklichem in der Welt passiert – Kriege, Menschenrechtsverletzungen, die vielen Ertrinkenden im Mittelmeer und vieles mehr – wäre entsetztes Aufschreien eigentlich häufiger angebracht anstatt des üblichen Schulterzuckens oder Wegschauens.
Langsam verabschiede ich mich innerlich von Bologna. Weil ich am Abend noch etwas vorhabe, beginne ich bereits am Nachmittag zu packen. Dann spaziere ich noch etwas durch die Stadt und setze mich noch einmal auf die Piazza Maggiore. Wenn man sich bereits innerlich auf die Heimfahrt einstellt, ist man eigentlich nicht mehr so richtig da. Auf gepackten Koffern zu sitzen ist immer ein komisches Gefühl. Aber morgen habe ich nochmal Schule, so ganz lösen kann ich mich noch nicht. Und heute Abend steht noch ein besonderes Abenteuer an.
Ich gehe an ein Konzert des Cantautore Roberto Vecchioni. Ich kannte ihn vorher noch nicht, aber ich habe den Namen von einer Facebook-Freundin gehört, die so begeistert von ihm ist, dass sie kürzlich nur für ein Konzert von ihm aus Deutschland nach Bergamo gereist ist. Nun singt er in Bologna, und bei der Gelegenheit möchte ich ihn mir auch mal anhören.
Vecchioni ist in Italien ziemlich bekannt. Meine Vermieterin Anna sagt, er sei der Intelligenteste unter den italienischen Sängern, man nennt ihn auch „il Professore“, weil er früher mal Altphilologe war. Genau das Richtige für mich.
Im Zusammenhang mit dem Konzert kann ich auch noch etwas Interessantes erfahren. Ich hatte mich immer wieder gefragt, was dieses Transparent von Amnesty International bedeuten soll, das an jedem Rathaus hängt, das ich auf dieser Reise gesehen habe:
Nun weiss ich es. Giulio Regeni war ein italienischer Student, der in Ägypten über unabhängige Gewerkschaften forschte und Kontakt zu Oppositionellen hatte. Für die linke Zeitung „Il Manifesto“ schrieb er unter Pseudonym kritische Artikel über den ägyptischen Staatsschef al-Sisi. 2016 wurde er tot in einem Strassengraben bei Kairo gefunden, die Autopsie ergab, dass er zu Tode gefoltert wurde, offenbar von ägyptischen Sicherheitskräften. Ägypten bestreitet dies. Giulio Regeni wurde nur 28 Jahre alt. Seither sind die diplomatischen Beziehungen zwischen Italien und Ägypten angespannt.
Roberto Vecchioni singt über Giulio Regeni ein Lied, das klingt wie ein Schlaflied. Es beschreibt die Gefühle der Mutter, die die Nachricht vom Tode ihres Kindes nicht glauben will. “Ihr vertut euch, es muss sich um jemand anderen handeln, Giulio ist doch hier und schläft nebenan”. Am Ende des Liedes wischt sich der Sänger die Tränen aus den Augen. Ein berührender Moment.
Auch dieses Konzert ist für mich ein nachhaltiges kulturelles Erlebnis und gleichzeitig der krönende Abschluss meines Bologna-Aufenthaltes. Nebenbei habe ich einen weiteren Cantautore kennengelernt.