Ostern 2020

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Ostersonntag. Ich zappe mich durch diverse Online- und Fernsehgottesdienste. Mich interessiert vor allem, wie sie gemacht sind. Es ist ja eine neue Form von kirchlicher Verkündigung, die jetzt plötzlich und ziemlich ungeplant Einzug gehalten hat. So ist es auch von sehr unterschiedlicher Qualität, was ich da zu sehen bekomme, besonders bei den Online-Formaten: Manchmal wurde einfach nur eine Kamera aufgestellt, ein Pfarrer hält einen Gottesdienst vor einer leeren Kirche, so als wäre alles wie immer. Andere Sendungen finde ich ansprechender: originell und professionell gemacht, gut aufgenommen und geschnitten. Man hat sich Mühe gegeben und sich etwas einfallen lassen, um dieser neuen Form gerecht zu werden.

Doch irgendwann an diesem Morgen wird es mir zu viel. Zu viel an Bildern, aber vor allem zu viel an Freudenbotschaft. Das fast atemlose Halleluja-Singen der Liturgen, die Vision von einer besseren Welt, die nach der Pandemie vermeintlich kommen wird, die überschwängliche Freude über das Erwachen der Natur gehen mir irgendwann auf die Nerven. Sicher, Ostern ist ein freudiges Fest. Das Leben ist stärker als der Tod – ja, damit bin ich einverstanden. Aber ich möchte mich auch heute mit meinen widersprüchlichen Gefühlen, meinem Unbehagen, meiner Angst, meinem Ärger und meiner Ungeduld abgeholt fühlen. Denn wenn ich genauer hinspüre, dann ahne ich, dass hinter diesen Gefühlen eigentlich etwas anderes sitzt, das manchmal hindurchschimmert, nämlich eine tiefe Traurigkeit über das, was momentan in der Welt passiert. Wenn ich mich dieser Traurigkeit stelle, sie wahrnehme und annehme – ohne sie dabei zu kultivieren – dann kann ich schliesslich auch das Schöne und Gute, das in dieser Zeit möglich ist, wertschätzen. Ostern heisst für mich nicht: Alles wird gut, sondern: Das Licht scheint in der Finsternis. Denn die Finsternis ist noch da, die Welt unvollkommen. Das wird selten so deutlich wie jetzt. Und das möchte ich auch an Ostern nicht weggewischt oder gar weggejubelt haben.

Am Nachmittag schwinge ich mich aufs Rad und fahre in die Landschaft rund um meinen Wohnort. Die Natur mit den blühenden Bäumen wirkt auf mich tröstlich. Gerade jetzt brauche ich Trost. Und denke: Wer jetzt keinen Trost braucht, ist wohl nicht ganz bei Trost.
In einem Dorf besuche ich eine Kirche, die ich bis anhin nur vom Vorbeifahren kannte. Als ich auf das Portal zugehe, prangen mir in grossen Buchstaben die Worte GLAUBE HOFFNUNG LIEBE entgegen. Diese drei Wörter treffen mich in diesem Moment im Innersten und berühren mich zutiefst, viel mehr, als es eine theologisch brillante Predigt oder eine profunde Liturgie gekonnt hätten. GLAUBE HOFFNUNG LIEBE – das reicht mir schon, um mich verstanden und getröstet zu fühlen. In der Kirche zünde ich eine Kerze an und werde einen Moment still.

GLAUBE HOFFNUNG LIEBE. Einfache Begriffe, und doch umfassen sie so viel. Sie sind wie Kraftquellen, die uns helfen können, im Schwierigen zu bestehen und Sinnlosigkeit auszuhalten. Vielleicht gerade darum, weil sie nicht eine heile Welt suggerieren. Bezeichnend ist der Kontext, in dem sie stehen. Es heisst: Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe… Sie sind das, was noch bleibt, nachdem wir erkannt haben, dass all unser Wissen Stückwerk ist, dass wir die göttliche Wahrheit jetzt nur sehen können wie in einem trüben Spiegel.* Der Text wird der Tatsache gerecht, dass wir in einer unvollkommenen Welt leben und dass all unser Wissen und Streben unvollkommen bleiben wird.

Mit dem warmen Gefühl, getröstet zu sein, verlasse ich die Kirche. Ich fahre nach Hause mit dem Gedanken: Jetzt ist für mich wirklich Ostern geworden.

2020-04-12 16.47.09*1. Korintherbrief 13; 9, 12-13

Diario Bolognese: Ein Jahr später

Nie hätte ich gedacht, dass mein Blog „Diario Bolognese“ noch einmal eine Fortsetzung finden würde – und schon gar nicht eine so traurige.

Ein Jahr ist es jetzt her, seitdem ich mich zu einem 2-wöchigen Sprachaufenthalt auf den Weg nach Bologna gemacht habe. In letzter Zeit gehen meine Gedanken wieder vermehrt in Richtung Italien und nach Bologna. Die Nachrichten aus Italien sind schockierend und machen mich sehr traurig.

Die Stadt Bologna, in der ich eine so schöne Zeit verbracht habe – wie mag es jetzt wohl dort aussehen, so fest im Griff der Ausgangssperre? Die Piazza Maggiore – leergefegt. Die Gässchen mit den Spezialitätenläden, das Uniquartier – menschenleer. Das quirlige, lebendige Bologna als Geisterstadt kann ich mir nicht so recht vorstellen. Auf der Facebookseite „Bologna Inside“ habe ich ein paar Bilder gesehen:

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Wie sehr habe ich mich noch letzten Herbst gefreut, als die Bilder von der Bewegung der „Sardinen“ von Bologna aus durch die Welt gingen. Unter dem Hashtag #Bolognanonsilega hatten sich viele Menschen auf der Piazza Maggiore versammelt – eng zusammenstehend wie Sardinen in der Dose – um gegen Salvini zu demonstrieren. Ein Bild, das jetzt wohl noch für lange Zeit unmöglich sein wird.

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Und wie mag es wohl den Menschen gehen, die ich damals kennengelernt habe?
Vor einigen Tagen habe ich Anna, meiner „Schlummermutter“ eine Mailnachricht geschrieben. Dass ich viel an sie denke und an die schöne Zeit in Bologna; dass die Nachrichten aus Italien mich sehr traurig machen. Und dass ich hoffe, es gehe ihr gut und sie sei gesund. Und am Schluss noch ein „Dio te tenga“ und „molto abbracci e baci“ an sie und ihren Kater.
Sie hat mir geantwortet, sie freue sich sehr von mir zu hören. Sie sei gesund wie auch alle anderen Leute in ihrem Bekanntenkreis. Aber sie sei „un po triste“. Ihren Blumenladen musste sie am 12. März schliessen.

Ob sie ihn je wieder wird öffnen können? Ob sie ihre Wohnung behalten kann? Solche Gedanken beschäftigen mich jetzt sehr. Was macht diese Krise aus Italien und seinen Menschen? Werde ich dieses Land einmal wieder so vorfinden, wie ich es kennen- und liebengelernt habe? Wird sich das Nord-Süd-Gefälle weiter verstärken? Der Populismus noch mehr erstarken? Oder wird Italien wieder neu aufleben können, wenn alles durchgestanden ist? Und wann wird das sein?

Die hässlichen Diskussionen zwischen Italien und Deutschland um die Eurobonds erschüttern mich. Ich hoffe, dass die dringend notwendige europäische Solidarität bald greifen wird. (Auch die Schweiz dürfte sich noch etwas solidarischer zeigen). Aber etwas mehr Sachlichkeit in der Diskussion wäre für alle heilsam.

Meine persönlichen Pläne bezüglich Italien musste ich ändern. Ende April wäre ich wieder zu einem Sprachaufenthalt aufgebrochen, dieses Mal nach Verona. Ich konnte den Kurs auf Ende August verschieben. Ob bis dann wieder eine Reise nach Norditalien möglich sein wird…? Momentan lerne ich Italienisch vom Sofa aus, was meinen Fortschritten nicht gerade sehr zuträglich ist. Aber ich bleibe dran.

Denn erst im Februar hatte ich den Plan gefasst, im Jahr 2022 meinen Studienurlaub anzutreten und in Palermo zu verbringen, um dort 3 Monate lang bei einem Hilfswerk mitzuarbeiten. Den Vorsatz, ein Mail mit einer Anfrage an das Hilfswerk zu schreiben – natürlich auf Italienisch – habe ich inzwischen wieder von meiner Pendenzenliste gestrichen. Die Leute dort haben jetzt sicher andere Probleme (z.B. die hungernde Bevölkerung zu versorgen) und wissen wohl selber nicht, was in 2 Jahren sein wird. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Meine Idee werde ich weiterverfolgen.

Nun hoffe ich sehr, dass Italien sich bald von diesem Drama erholen und eine Art Auferstehung erleben wird. Das gemeinschaftliche Singen der Menschen von den Balkonen, die vielen mutmachenden Voten wie „Tutto andrà bene“ oder „Ce la faremo“ und die Beleuchtung von Gebäuden in den italienischen Farben geben Kraft und Zuversicht.
Und im Blick auf mein eigenes Land, das im Verhältnis zur Bevölkerungszahl mit am schwersten betroffen ist, denke ich: Wir sitzen alle im gleichen Boot, wir sind alle eine grosse Menschheitsfamilie, wir sollten zusammenhalten, denn bewältigen können wir diese Krise nur gemeinsam.

Wie auch immer: Italien wird in meinem Herzen bleiben.

2020-03-31 18.03.41

P.S.: Meinen Blog „Diario Bolognese“ kann man jetzt im Zusammenhang und in der richtigen Reihenfolge lesen. Siehe https://nicolesblog.net/reiseblog-diario-bolognese/