Dieser Text erschien als „Wort zum Sonntag“ im Thuner Tagblatt am 19.06.21.
„Gehe an einen Ort der Stille und lasse dein inneres Wissen entstehen“.
Nein, das ist kein Gebot einer Heiligen oder eines Meditations-Gurus. Ich habe diesen Satz in einem Management-Buch gelesen. Auch bei Führungskräften ist die Erkenntnis inzwischen angekommen, dass das Aufsuchen von Orten der Stille eine innere Quelle sein kann. In diesem Fall wohl eine Quelle zu menschlicherer Personalführung, zu innovativerem Handeln oder einfach zur Burn-out-Prävention. Oder vielleicht tut es einem Menschen auch einfach gut, unabhängig davon, ob man nun ein grosses Unternehmen führt oder auf andere Art im Leben steht.
Man muss also nicht unbedingt ein religiöser Mensch sein, um die Sehnsucht nach Stille in der Natur zu verspüren.
Auch mir selber tut es immer wieder gut, in meinem Alltag für einige Momente hinauszugehen und einen ruhigen Ort in der Natur aufzusuchen. In der Nähe meines Wohnortes gibt es ein Waldstück, durch das ein Bach hindurchfliesst. Dieser Ort strahlt für mich eine besondere Ruhe, ja ich könnte fast sagen: eine Art Heiligkeit aus. Auf einem Spaziergang zu diesem Ort kann ich einen Moment lang den Belastungen des Alltages entfliehen, die Dinge mit Abstand betrachten, neue Perspektiven gewinnen oder ganz einfach mal das Denken abschalten. Bei diesem knapp stündigen Gang konnte ich schon Lösungen für drängende Probleme finden, wichtige Entscheidungen treffen, neue Kraft tanken oder wenn nötig Trost und Hoffnung gewinnen. Ja, ich kann wirklich sagen: Es ist ein wichtiger Teil meiner Spiritualität, einen solchen Ort aufzusuchen.
In der Bibel gibt es viele Beispiele für heilige Orte. „Wahrhaftig, Gott ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht!“ rief Jakob aus, nachdem er im Freien geschlafen und von einer Himmelsleiter geträumt hatte. Jesus zog sich zum Fasten in die Wüste zurück und betete im Garten Gethsemane.
Viele heutige Menschen haben auf ähnliche Art ihre besonderen Orte. Wenn ich bei Taufgesprächen die Eltern nach ihrer Religiosität frage, kommt manchmal zur Antwort: „Ach, ich bin ja keine Kirchgängerin, aber ich habe da so meine Orte…“. Das Gehen an „Orte der Stille“ kann also auch für nicht explizit religiöse Menschen so etwas wie Spiritualität bedeuten.
Auch in unserer Region gibt es viele „Kraftorte“. Die zwölf Thunerseekirchen wurden ja teilweise an Orte gebaut, von denen man bereits in vorchristlicher Zeit glaubte, dass sie eine besondere Kraft ausstrahlen. Aber auch vermeintlich unscheinbare Orte können für einen Menschen Kraft oder eine besondere Stille ausstrahlen: Der Baum auf dem Hügel, der Bach am Waldrand oder ein bestimmter Platz am Seeufer. Vielleicht hat man an einem bestimmten Ort etwas Schönes erlebt oder das Gefühl bekommen, sich dort besonders wohl zu fühlen. Und natürlich darf es auch eine Kirche sein. Immer mehr Menschen suchen in unseren Kirchen kurze Momente der Besinnung, auch wenn sie nie in Gottesdienste gehen.
Sicher werde ich bald wieder „meinen“ besonderen Ort aufsuchen, werde auftanken, abschalten, Freude oder auch Trost finden – und vielleicht sogar auch etwas von Gott spüren. Und Sie?