Cervelat im Morgenrock

Dieser Text erschien als „Wort zum Sonntag“ im Thuner Tagblatt am 30.07.22

Meine Mutter, gebürtige Zürcherin, erzählte uns früher immer, dass in ihrer Kindheit die Schweiz die gleiche Nationalhymne hatte wie Grossbritannien, nur mit einem anderen Text. Und dass man manchmal aus Blödsinn sang: „Heil dir, Helvetia, Bratwurst und Cervelat.“ Im Raum Bern hiess es offenbar „hesch no ke Gaffe gha“.

Das zeugt ja nicht gerade von ehrbarem Patriotismus. Wenn ich mir aber den Text von „Rufst du, mein Vaterland“ so anschaue, in dem die Söhne, die Helvetia ja noch hat, freudvoll zum Streit schreiten und im frohen Todesstreich Wut wider Wut dem Schmerz spotten, dann habe ich Verständnis für die Verballhornung. Da ist mir die jetzige Hymne, die ohne jegliche Kriegsverherrlichung auskommt, doch um einiges lieber.

Aber ich muss gestehen, dass mein Verhältnis zur aktuellen Hymne zwiespältig ist.

Als ich sie kennenlernte, dauerte es einen Moment, bis ich begriff, dass mit dem Hocherhabenen, der im Morgenrock – Entschuldigung – im Morgenrot dahertritt nicht etwa das Vaterland gemeint ist, sondern niemand geringerer als Gott.

Gott ist es, der im Morgenrot, im Alpenglühn, im Nebelflor und im wilden Sturm daherkommt. Und nachdem die freien Schweizer zum Beten aufgefordert werden, ahnt am Ende jeder Strophe die fromme Seele Gott im hehren Vaterland.

Dieses Lied trägt den Titel Schweizerpsalm und ist eigentlich ein Kirchenlied. Es wurde im Jahr 1841 vom Zisterziensermönch Alberich Zwyssig komponiert und ist auch heute noch sowohl im reformierten als auch im katholischen Gesangbuch enthalten.

Der Text bringt eine wunderschöne Naturmystik zum Ausdruck. Gott kann in der Natur erfahren oder zumindest erahnt werden. Das ist eigentlich ein sehr schöner Gedanke. Wer hat noch nie das Gefühl gehabt, auf einem Berggipfel, im dichten Wald oder gar in einem tosenden Sturm etwas von Gottes Gegenwart spüren zu können? Insofern gefallen mir die romantischen Bilder des Schweizerpsalms. Doch was mich stört, ist das „Gott im hehren Vaterland“. Soll das bedeuten, dass Gott vor allem in der Schweiz erfahrbar ist? Hält er sich lediglich innerhalb unserer Grenzen auf? Ist Gott in anderen Ländern weniger präsent? Haben wir Gott für uns allein gepachtet?

Doch Gott findet sich nicht nur „im hehren Vaterland“, sondern überall auf der Welt. Gott kann auch im tropischen Regenwald erfahren werden, im Himalaya, in der Wüste Gobi oder auf dem tiefsten Meeresgrund. Gott findet sich in jedem Winkel dieser Welt, davon bin ich überzeugt. Und keine Nation innerhalb menschengemachter Grenzen kann Gott für sich allein beanspruchen. Die religiöse Überhöhung von Nationen, die Überzeugung, Gott auf der eigenen Seite zu haben, haben oft genug in der Geschichte schreckliches Leid ausgelöst.

Da gefallen mir die Varianten der Hymne in den anderen Landessprachen schon besser. Hier bleibt Gott schön brav im Himmel, wie z.B. in der französischen Fassung, in der Gott uns vom Himmel her segnet.

Sicher werde ich auch dieses Jahr an der Augustfeier den Schweizerpsalm mitsingen. Aber vielleicht werde ich am Ende lieber in Romanisch „Dieu in tschiel, il bap etern“ singen. Oder ich werde in der italienischen Version mit den bewährten Werten „libertà, concordia, amor“ die Helvetia ehren. Lassen wir Gott doch da, wo er/sie/es ist, wo immer das auch sei.

Hier kann der Text des Schweizerpsalms in den verschiedenen Landessprachen nachgelesen werden: https://de.wikipedia.org/wiki/Schweizerpsalm

Grüessech!

Dieser Text erschien als „Wort zum Sonntag“ im Thuner Tagblatt am 19.03.22

„Uf Widerluege und e schöne Tag!“ sagt die Verkäuferin beim Bäcker, nachdem sie mir das verlangte Brot über die Theke geschoben hat.

„Merci, glichfalls“, murmle ich und stolpere aus der Tür,  beinahe wäre ich noch mit jemandem zusammengestossen. Ich bin mal wieder im Stress. Schon wieder ein Tag, bei dem ich mit dem falschen Fuss aufgestanden bin! Und ich muss gleich weiter. Nachher habe ich eine Sitzung, danach schnell kochen, Abdankung vorbereiten, telefonieren und, und, und …

Doch plötzlich halte ich inne. Was hat die Verkäuferin zu mir gesagt? Sie hat mir doch gerade einen schönen Tag gewünscht! Und was mache ich? Ich stresse von einem Termin zum anderen, beachte nicht die Menschen um mich herum, merke nicht einmal, dass heute endlich mal wieder die Sonne scheint, kurz: ich tue alles andere, als diesen Tag zu einem schönen Tag werden zu lassen. Wie wäre es, wenn ich mir diesen Wunsch einmal so richtig zu Herzen nehmen würde? Da ist ein Mensch, der hofft, dass ich einen schönen Tag erleben möge. Das sollte mich doch eigentlich fast dazu verpflichten, selber dafür zu sorgen, dass dieser Tag auch wirklich schön wird. Sicher, meine Aufgaben muss ich trotzdem erledigen. Aber mit diesem Wunsch, der mir da auf den Weg gegeben worden ist, kann ich plötzlich vieles anders angehen. Dieser Tag könnte tatsächlich ein schöner Tag werden! Indem mir dies ganz bewusst ist, strahlt die Sonne ein bisschen heller, die Menschen um mich herum wirken freundlicher und der Tag ist ein bisschen weniger stressig.

Solche Wünsche werden ja täglich ganz selbstverständlich ausgesprochen. Man wünscht einander einen schönen Tag, einen guten Abend, ein schönes Wochenende, fröhliche Weihnachten oder frohe Ostern… Oft denken wir uns nicht viel dabei. Doch ursprünglich waren solche Wünsche Segenswünsche. In früheren Zeiten gab man sich einen Segen mit auf den Weg, wenn man einander begegnete. Heute noch bekannt sind die irischen Reisesegen:

Möge dein Weg dir freundlich entgegenkommen,

möge der Wind dir den Rücken stärken.

Möge die Sonne dein Gesicht erhellen

und der Regen um dich her die Felder tränken.

Und bis wir beide, du und ich uns wiedersehen,

möge Gott dich schützend in seiner Hand halten.

Das Reisen war damals eine gefährliche Angelegenheit, und mit dem Segenswunsch wollte man die Reisenden unter Gottes Schutz stellen.

Mit der Zeit ist von solchen Segenswünschen nur noch „Schöner Tag“ oder „Gute Reise“ übriggeblieben. Doch eigentlich ist jede Begrüssung bereits ein Segenswunsch: Im Hochdeutschen sagt man zur Begrüssung „Guten Tag“, genauso wie in den anderen Landessprachen: „Bonjour“, „Buongiorno“ oder „Bun di“. Unser berndeutsches „Grüessech“ bedeutet eigentlich: „Grüss Euch Gott“ – man hofft also, der oder die Angesprochene möge sich von Gott gegrüsst fühlen. Das ist doch eigentlich eine sehr schöne Vorstellung.

Ich bin dann an besagtem Tag in die Sitzung gegangen, habe gekocht, die Abdankung vorbereitet, telefoniert und noch vieles Andere erledigt. Auch wenn der Tag etwas gar vollgestopft mit Aktivitäten war, so konnte ich doch – mit dem Segenswunsch der Verkäuferin im Rücken – alles ein wenig gelassener angehen.

Es kann also gut tun, solche alltäglichen Wünsche einmal ganz wörtlich zu nehmen oder vielleicht sogar als Segenswunsch zu verstehen. Und ebenso gut tut es, solche Wünsche unseren Mitmenschen gegenüber mal ganz bewusst auszusprechen.

Also, wann immer Sie diese Zeilen lesen: Ich wünsche Ihnen aus tiefstem Herzen einen ganz besonders schönen Tag!

Orte der Stille

Dieser Text erschien als „Wort zum Sonntag“ im Thuner Tagblatt am 19.06.21.

„Gehe an einen Ort der Stille und lasse dein inneres Wissen entstehen“.

Nein, das ist kein Gebot einer Heiligen oder eines Meditations-Gurus. Ich habe diesen Satz in einem Management-Buch gelesen. Auch bei Führungskräften ist die Erkenntnis inzwischen angekommen, dass das Aufsuchen von Orten der Stille eine innere Quelle sein kann. In diesem Fall wohl eine Quelle zu menschlicherer Personalführung, zu innovativerem Handeln oder einfach zur Burn-out-Prävention. Oder vielleicht tut es einem Menschen auch einfach gut, unabhängig davon, ob man nun ein grosses Unternehmen führt oder auf andere Art im Leben steht. 

Man muss also nicht unbedingt ein religiöser Mensch sein, um die Sehnsucht nach Stille in der Natur zu verspüren.

Auch mir selber tut es immer wieder gut, in meinem Alltag für einige Momente hinauszugehen und einen ruhigen Ort in der Natur aufzusuchen. In der Nähe meines Wohnortes gibt es ein Waldstück, durch das ein Bach hindurchfliesst. Dieser Ort strahlt für mich eine besondere Ruhe, ja ich könnte fast sagen: eine Art Heiligkeit aus. Auf einem Spaziergang zu diesem Ort kann ich einen Moment lang den Belastungen des Alltages entfliehen, die Dinge mit Abstand betrachten, neue Perspektiven gewinnen oder ganz einfach mal das Denken abschalten. Bei diesem knapp stündigen Gang konnte ich schon Lösungen für drängende Probleme finden, wichtige Entscheidungen treffen, neue Kraft tanken oder wenn nötig Trost und Hoffnung gewinnen. Ja, ich kann wirklich sagen: Es ist ein wichtiger Teil meiner Spiritualität, einen solchen Ort aufzusuchen.

In der Bibel gibt es viele Beispiele für heilige Orte. „Wahrhaftig, Gott ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht!“ rief Jakob aus, nachdem er im Freien geschlafen und von einer Himmelsleiter geträumt hatte. Jesus zog sich zum Fasten in die Wüste zurück und betete im Garten Gethsemane.

Viele heutige Menschen haben auf ähnliche Art ihre besonderen Orte. Wenn ich bei Taufgesprächen die Eltern nach ihrer Religiosität frage, kommt manchmal zur Antwort: „Ach, ich bin ja keine Kirchgängerin, aber ich habe da so meine Orte…“. Das Gehen an „Orte der Stille“ kann also auch für nicht explizit religiöse Menschen so etwas wie Spiritualität bedeuten.

Auch in unserer Region gibt es viele „Kraftorte“. Die zwölf Thunerseekirchen wurden ja teilweise an Orte gebaut, von denen man bereits in vorchristlicher Zeit glaubte, dass sie eine besondere Kraft ausstrahlen. Aber auch vermeintlich unscheinbare Orte können für einen Menschen Kraft oder eine besondere Stille ausstrahlen: Der Baum auf dem Hügel, der Bach am Waldrand oder ein bestimmter Platz am Seeufer. Vielleicht hat man an einem  bestimmten Ort etwas Schönes erlebt oder das Gefühl bekommen, sich dort besonders wohl zu fühlen. Und natürlich darf es auch eine Kirche sein. Immer mehr Menschen suchen in unseren Kirchen kurze Momente der Besinnung, auch wenn sie nie in Gottesdienste gehen.

Sicher werde ich bald wieder „meinen“ besonderen Ort aufsuchen, werde auftanken, abschalten, Freude oder auch Trost finden – und vielleicht sogar auch etwas von Gott spüren. Und Sie?

Weihnachtszeit 2020

Dieser Artikel erschien Ende November 2020 als Editorial auf den Gemeindeseiten der Kirchenzeitung „reformiert.“

Ich würde Ihnen jetzt gerne etwas Schönes und Besinnliches schreiben – von der schönen Adventszeit, der weihnachtlichen Stimmung, von freudigen, geselligen Anlässen und Begegnungen, die wir Ihnen als Kirche bieten, von der weihnachtlichen Freude, die in dieser Zeit unsere Herzen erfüllt. Ich würde gerne erbauliche Worte verwenden, die dazu einladen, diese Zeit ganz bewusst zu geniessen.

Stattdessen sitze ich jetzt hinter meinem Computer und bin ratlos. Was soll ich Ihnen bloss schreiben, jetzt, Ende Oktober? (Der Abgabetermin für die Texte der Gemeindeseite ist jeweils einen Monat im Voraus).

In den letzten Tagen wurden die neuesten Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie vorgestellt. Niemand weiss momentan, was im Dezember gelten wird. Wird die strenge Regelung des Kantons (Versammlungen nur bis 15 Personen) beibehalten? Oder werden Zusammenkünfte bis 50 Personen möglich sein? Oder müssen die Massnahmen gar verschärft werden?

Auf diese Fragen gibt es heute keine Antworten. Wenn Sie diese Zeilen lesen werden, wissen Sie sicher schon mehr. Aber wie soll ich Ihnen jetzt, einen Monat im Voraus, etwas Schönes, Besinnliches schreiben?

Klar ist: Diese Weihnachtszeit wird anders sein als in anderen Jahren. Sie wird von Einschränkungen und Verzichten geprägt sein. Die Geselligkeit, die vielen Zusammenkünfte, das gemeinsame Feiern wird teilweise gar nicht oder nur in eingeschränkter Form möglich sein. Von vielen geplanten Veranstaltungen ist nicht sicher, ob sie tatsächlich stattfinden werden. Mit dieser Situation müssen wir leben, und je eher wir sie als unabänderlich akzeptieren, desto besser werden wir damit umgehen können.  

Wir müssen uns also auf eine Weihnachtszeit einstellen, die anders sein wird als gewohnt.

Doch was können wir tun, wenn viele von unseren liebgewonnenen Traditionen dieses Jahr nicht möglich sein werden? Wie können wir Advent und Weihnachten feiern ohne Samichlausbesuch für die Kinder? Ohne Weihnachtsfeiern in der Firma und im Verein? Kein unbeschwerter Einkaufbummel, kein Adventssingen in vollbesetzten Kirchen, kein Chorkonzert in der Stadtkirche, kein Festessen im Kreise der Grossfamilie… Man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass solche Anlässe dieses Jahr nicht wie gewohnt stattfinden werden.

Was also bleibt uns noch von Advent und Weihnachten unter Corona-Bedingungen? Die Antwort lautet: Sehr viel!

Wir Kirchgemeinden geben uns alle erdenkliche Mühe, um Ihnen so viel wie möglich zu bieten. Mit viel Kreativität suchen wir nach anderen Formen, um mit Ihnen Advent und Weihnachten feiern zu können. Wir möchten niemand allein lassen in dieser Zeit, darum suchen wir nach Wegen, wenigstens etwas Geselligkeit und Begegnung zu ermöglichen. Wir sind gerade jetzt für Sie da: Sie können sich bei unseren Pfarrämtern melden und finden ein offenes Ohr.

Und auch Sie selber können vieles tun, um diese Zeit weihnachtlich zu gestalten.

Denn Advent und Weihnachten ist mehr als Weihnachtsfeiern, Konzerte und Festessen. Es sind schöne Traditionen, aber notfalls können wir darauf verzichten, ohne den wahren Sinn von Weihnachten zu beschädigen.

Denn die Botschaft lautet: Gott ist Mensch  geworden und kam auf diese Erde, um unter uns zu leben. Gott kam hinein in die Not der Welt, in einfache und armselige Verhältnisse, um das Schicksal der Menschen zu teilen. Durch das Kind in der Krippe sandte uns Gott die Botschaft: Eine heilvolle Welt voller Frieden ist möglich. Dieses Kind ist schon der Vorbote davon.

In der heiligen Nacht geschah etwas, das wir nur als Wunder und Geheimnis bezeichnen können. Dieses Wunder, dieses Geheimnis kann uns niemand nehmen. Der weihnachtliche Frieden soll in unsere Herzen einziehen – auch und gerade jetzt in diesem besonderen Winter.

Vielleicht sind wir in diesem Jahr gezwungen, uns auf das Wesentliche von Weihnachten zu besinnen, das Fest „abzuspecken“ und zu „entledigen“ von so manchem Ballast, der sich im Laufe der Jahrhunderte angesammelt hat. Und vielleicht ist das nicht einmal die schlechteste Variante, Weihnachten zu feiern.

Seien Sie also kreativ und flexibel, um Advent und Weihnachten neu zu entdecken. Und: Passen Sie gut auf sich auf, sorgen Sie für Ihr Wohlbefinden, achten Sie auf Ihre Mitmenschen und pflegen Sie herzliche und hilfreiche Kontakte im kleinen Kreis oder am Telefon.

Ich bin sicher: So kann das weihnachtliche Licht auch dieses Jahr in unsere Herzen einkehren.

„Sex & Gott & Rock’n’Roll“ – eine Rezension

Die Romantrilogie „Sex & Gott & Rock’n’Roll“ erzählt die bewegte Geschichte von Jeannie und Johnny, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt (ich beziehe mich hier auf die gesamte Trilogie).

Jeannie und Johnny sind durch eine tiefe Liebe miteinander verbunden, können dennoch nicht wirklich als Paar zusammen sein und kommen doch ihr Leben lang nicht voneinander los.

Das Buch begleitet Jeannie und Johnny fast durch ihre ganze Lebensgeschichte hindurch, angefangen mit ihrer Kindheit in den 50er/60er Jahren über die Jugendzeit in den 70ern, es endet in unserer Gegenwart im Alter von 60 Jahren. Dazwischen finden sich bewegte Jahrzehnte voller Höhen und Tiefen, tiefer Liebe und dramatischen Trennungen, intensiv empfundenen Glückes und abgrundtiefer Verzweiflung, Seelenverwandtschaft und innerer Zerrissenheit.

Der Titel „Sex & Gott & Rock’n’Roll“ umschreibt sehr gut die drei thematischen Schwerpunkte des Werkes: Liebe und Sexualität, die spirituelle Sinnsuche und der jeweilige Zeitgeist. Ersteres dominiert das Buch teilweise, was ihm jedoch keinen Abbruch tut, denn die erotischen Szenen sind stets in schöner Sprache und respektvoll geschildert. Die beiden anderen Themen hätten dagegen ruhig noch etwas mehr zum Zug kommen können. Das Thema Spiritualität bleibt inhaltlich teilweise etwas vage. Und neben der Erwähnung der Rockmusik der 70er Jahre (ich warte noch auf die CD zum Buch) wären noch weitere Seitenblicke auf den jeweiligen kulturellen und gesellschaftspolitischen Hintergrund interessant gewesen.

Als Leserin war ich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt, konnte zusammen mit Jeannie und Johnny mitleiden, hoffen, bangen, fühlen und trauern. Ihre Beweggründe und Handlungen waren für mich stets nachvollziehbar. Dazu trägt auch der flüssige, anschauliche Sprachstil bei. Bei der Qualität dieses Werkes ist es erstaunlich, dass Tilmann Haberer bislang nicht als Romanautor hervorgetreten ist, sondern als Autor theologischer Sachbücher (So ist z.B. das Buch „Gott 9.0“, das er zusammen mit Marion und Werner Küstenmacher geschrieben hat, ebenfalls sehr lesenswert). Der theologische Hintergrund des Autors wird im Buch auf unaufdringliche, aber bereichernde Art spürbar.

Das Werk „Sex & Gott & Rock’n’Roll“ ist viel mehr als nur ein Liebesroman. Es ist ein Buch über das Leben mit all seinen Facetten, auch vor den Themen Krankheit, Alter und Tod macht es nicht Halt. Ich wünsche mir noch mehr solcher Bücher und hoffe, Tilmann Haberer schreibt weiter.

 

 

 

 

 

 

Wie sieht Ostern aus?

Mal ganz ehrlich: Was denken Sie als Erstes, wenn Sie das Wort Ostern hören? Welche Bilder und Assoziationen kommen Ihnen ganz spontan zu diesem Begriff in den Sinn?

Ich vermute, es sind die Ostereier. Mir ging es jedenfalls lange Zeit so. Das grosse O am Anfang dieses Wortes erinnert ja auch an ein Osterei. Vielleicht denkt man ja auch an Osterhasen, Osterdekorationen mit farbigen Frühlingsblumen, nach einem langen Winter sieht man grünes Gras und Osterglocken vor dem inneren Auge. Oder man denkt an einen österlichen Brunch mit leckeren Speisen und dem vergnüglichen Eiertütschen. Aber die wenigsten Menschen werden bei diesem Wort als Erstes an die Auferstehung Jesu denken.

Das ist auch verständlich. Denn das, was wir an Ostern eigentlich feiern, nämlich die Auferstehung Jesu von den Toten, kann man sich nicht so leicht bildlich vorstellen.

Mit Weihnachten ist es etwas anders: Zwar hat auch der Weihnachtsbaum mit der biblischen Weihnachtsgeschichte herzlich wenig zu tun, aber wenigstens gibt es die Weihnachtskrippe und Krippenspiele, welche diese Geschichte anschaulich machen. Die Weihnachtsgeschichte wird auch sonst auf vielerlei Art dargestellt und nacherzählt, so dass die meisten Menschen einen inneren Bezug herstellen können zwischen dem Fest und der biblischen Überlieferung, die dem zugrunde liegt.

Was hingegen Ostern betrifft, so ist zu befürchten, dass mit der Zeit immer weniger Menschen wissen, was da eigentlich gefeiert wird. Nein, es ist nicht ein Frühlingsfest. Nein, es geht hier nicht um die Ostereier und Osterhasen. Auch nicht um den Brauch des Eiertütschens und Brunchens, auch nicht darum, dass man da ein paar Tage frei hat, um nochmal auf die Skipiste zu gehen oder ins Tessin (und auch der Stau am Gotthard hat mit Ostern ursprünglich nichts zu tun). Alles das gehört zwar inzwischen auch dazu, ist aber nicht der eigentliche Sinn dieses Festes.

Das Problem ist, dass die Auferstehung Jesu nicht so leicht abzubilden ist wie die Krippenszene aus der Weihnachtsgeschichte.

Das liegt in der Natur der Sache. Auch in der Bibel wird die Auferstehung nicht direkt beschreiben, es gibt davon keine Augenzeugenberichte. Das einzige Zeugnis davon ist das leere Grab, das Maria von Magdala und „die andere Maria“ am frühen Morgen des dritten Tages nach der Kreuzigung entdecken. Auch in der Kunst gibt es wenige Bilder, welche die Auferstehung darzustellen versuchen.

Wie können wir nun Ostern mit der Auferstehung verbinden? Wie kann man die Bedeutung von Ostern sichtbar und erfahrbar machen?

Die kirchliche Tradition hat viele Bräuche und Rituale entwickelt, um mit Symbolen den Sinn des Osterfestes verständlich zu machen.

Sehr alt ist die Tradition der Nachtwache. Wegen der Entdeckung des leeren Grabes Jesu „früh am Morgen, als eben die Sonne aufging“ ist die Morgenröte im Christentum Symbol der Auferstehung. Die Canones Hippolyti  (um 350) gaben daher für die Osternacht die Weisung: „Alle sollen daher bis zur Morgenröte wachen, dann ihren Leib mit Wasser waschen, bevor sie Pascha feiern, und das ganze Volk sei im Lichte“.

Im 12. Jahrhundert leitete man den Begriff Ostern von Osten ab, der Himmelsrichtung des Sonnenaufgangs. Der Ort der aufgehenden Sonne galt als Symbol des auferstandenen und wiederkehrenden Jesus Christus. Viele neue Christen ließen sich damals bei Sonnenaufgang am Ostermorgen taufen.

Aus diesem Brauchtum haben sich die Osterfrühfeiern und die Osternachtsfeiern entwickelt, die heute auch bei uns Reformierten in vielen Kirchgemeinden gefeiert werden. Dabei wird auf dem Friedhof ein Osterfeuer entzündet als Symbol für die Auferstehung, für das Leben inmitten des Todes. In diesem Zusammenhang steht auch der Brauch der Osterkerze. Diese wird mit einer Flamme des Osterfeuers entzündet. So gelangt das Licht der Auferstehung in die Kirche. Die Osterkerze brennt dann in jedem Gottesdienst des Kirchenjahres. Bei Tauffeiern entzündet man an ihrer Flamme die Taufkerze, am Ewigkeitssonntag wird für jeden Verstorbenen eine Kerze daran angezündet, um die Hoffnung der Auferstehung zum Ausdruck zu bringen. Auf diese Art wird die Präsenz des Auferstandenen bei allen gottesdienstlichen Anlässen sichtbar gemacht.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Osterfest, viel Freude am Eiertütschen – und vergessen Sie dabei nicht, was Ostern wirklich bedeutet.

Dieser Text erschien im April 2017 als Editorial in der Kirchenzeitung „Reformiert“.

Weihnachten im Pfarramtsbüro

SSchon wieder zündet sich Theo eine Zigarette an. Eigentlich hat er ja schon vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört. Ein Pfarrer raucht schliesslich nicht, sonst wäre er ein schlechtes Vorbild für die Jugend. Aber jetzt ist eine besondere Situation. Rauchen hilft ihm beim Nachdenken, und das hat er bitter nötig, jetzt am Heiligabend um 16 Uhr 30. Er hat noch kein Wort von der Predigt geschrieben, die er in wenigen Stunden an der Christnachtfeier halten soll – und schliesslich muss er vorher auch noch mit der Familie gemütlich Weihnachten feiern.

Ratlos sitzt er vor einem leeren Blatt Papier. Von Hand kann er besser Predigten schreiben, da kann er besser denken – eigentlich. Aber jetzt…? „Liebe Gemeinde! Wieder einmal feiern wir Weihnachten!“ Ach, so ein Quatsch, das wissen die Leute doch selber, denkt Theo, zerknüllt das Papier und wirft es in hohem Bogen hinter sich auf den Boden. Das tut gut, besser als am Computer die Delete-Taste zu drücken.

Was soll er nur predigen? Nun ist er schon seit 25 Jahren im Pfarramt, er hat seine 25. Weihnachtspredigt zu schreiben. Weihnachten ist doch immer das Gleiche, aber er muss jedes Jahr etwas Neues bringen. Nächster Versuch: „Liebe Gemeinde! Was bedeutet uns Weihnachten heute?“ – Nein, das ist doch auch immer wieder dasselbe. Das nächste Papierknäuel landet auf dem Boden. Schade, dass ich keinen Kamin habe, denkt Theo, das gäbe ein hübsches Feuerchen.

In Gedanken geht er noch einmal die verschiedenen Weihnachtspredigten seiner Pfarrerkarriere durch. Beim ersten Mal, als er gerade frisch vom Studium gekommen ist, hat er eine sorgfältige Exegese der biblischen Weihnachtsgeschichte erstellt – natürlich anhand des griechischen Urtextes – und eine Auslegung gemäss der Theologie Karl Barths in seine Predigt verpackt. Er hat dann im Gottesdienst in lauter ratlose Gesichter geblickt.

Im Jahr darauf wollte er der Gemeinde die politische Dimension der Weihnachtsgeschichte näherbringen. Er zeigte auf, dass Maria und Josef Flüchtlinge waren, die Hirten Angehörige der Unterschicht, Herodes und Kaiser Augustus grausame Despoten und die Heiligen drei Könige Ausländer. Mit gereckter Faust hat er von der Kanzel herab zum Kampf gegen den Kapitalismus aufgerufen, er hat vorgerechnet, wieviele Kinder weltweit pro Sekunde verhungern und hat die Menschen gemahnt, keine Weihnachtsgeschenke zu kaufen, sondern das Geld dafür an Hilfswerke zu spenden. Er hat sich dann fast geschämt, als später eine Frau zu ihm sagte, von ihrer Sozialhilfe könne sie ihren Kindern sowieso keine Geschenke kaufen, geschweige denn etwas spenden, und um für irgendetwas politisch zu kämpfen habe sie in ihrem Alltag gar keine Kraft.

In einem anderen Jahr liess er einen verdorrten Weihnachtsbaum in die Kirche stellen, um an die Umweltzerstörung zu mahnen, und um die Verbundenheit mit der Schöpfung zum Ausdruck zu bringen, liess er sogar einen echten Ochsen und einen echten Esel in die Kirche bringen. – Die Sigristin hat daraufhin fristlos gekündigt.

Ein anderes Mal hat er in der Predigt erklärt, dass die Jungfrauengeburt keinesfalls als biologisches Faktum, sondern nur als mythologische Botschaft zu verstehen sei, und dass sämtliche Vorstellungen von Himmel und Engeln sowieso nur Projektionen des Unbewussten seien. Das gab sogar Kirchenaustritte!

Seufzend starrt Theo auf sein leeres Blatt und zündet sich die nächste Zigarette an.

 *

Inzwischen sind die zerknüllten Papierkugeln auf dem Boden zu einem Haufen angewachsen. Theos Gedanken schweifen abermals ab. Ihm kommt sein Schulkollege Kurt in den Sinn, der überzeugte Atheist. Bei jedem Klassentreffen sagt er zu ihm: „Na, bist du immer noch Pfaffe und erzählst den Leuten auf der Kanzel irgendein Geschwätz?“ Vielleicht hat er Recht? Theo kaut an seinem Kugelschreiber. Was hat er nicht alles probiert, um an Heiligabend etwas Leben in die Kirche zu bringen! Er erinnert sich noch gut an das Jahr, als er mit farbig blinkenden Lichtern die Kirche in eine Art Disco verwandelt hat. Das hat gar nicht schlecht ausgesehen! Doch als die Band mit E-Gitarre und Schlagzeug „Ihr Kinderlein kommet“ anstimmte, wollte niemand so recht mitsingen.

Dann erinnert sich Theo an die Waldweihnacht, an der es in Strömen regnete, an den amerikanischen Gospelsänger, der immer wieder „Hallelujah, praise the Lord!“ in die Kirche rief, an den Kinderchor, von dem nur die Hälfte erschien und an seinen Auftritt als Entertainer, als er mit Weihnachtsmann-Mütze auf dem Kopf mit dem Mikrophon durch die Reihen ging und Witze erzählte. Man kann ihm sicher nicht vorwerfen, dass er all die Jahre keine Ideen gehabt hätte! Und doch war die Resonanz auf seine Einfälle eher dürftig, die Reaktionen verhalten; niemals konnte auch nur ein Funken wirklicher Begeisterung oder gar weihnachtliche Stimmung aufkommen. Was macht er nur falsch?

Theo hat sich gerade für seine nächste Zigarette ein Streichholz angezündet, als sein Blick auf eine Kerze fällt, die verstaubt in einer Ecke steht. Einem inneren Impuls folgend zündet er statt der Zigarette die Kerze an. Schon lange hat er keine Kerze mehr angezündet; seit die Kinder gross sind, haben sie auch keinen Adventskranz mehr. Sein Blick verliert sich in der Flamme. Erinnerungen tauchen auf, von ganz früher, aus seiner Kindheit.

*

Vorsichtig klopft Ruth an Theos Bürotür. Sie weiss, dass ihr Mann leicht unerträglich wird, wenn man ihn beim Predigtschreiben stört. Doch jetzt muss sie ihn fragen, ob er nun eigentlich fertig sei, die Bescherung fange gleich an.

Als Ruth eintritt, erschrickt sie. „Theo, was ist mir dir? Du siehst so komisch aus! Aber Theo, du weinst ja! Geht es dir nicht gut?“

Doch da zaubert sich auf Theos tränennasses Gesicht ein seltsames Strahlen. Mit verklärtem Blick sagt er zu seiner Frau: „Doch, Ruth, es geht mir wunderbar! Mir wurde gerade der Sinn von Weihnachten offenbart. Weisst du, Exegese, politische Botschaft, Projektionen des Unbewussten, Waldweihnacht, Disco, Entertainment – das können wir alles vergessen. An Weihnachten geht es um etwas ganz anderes!“

Da fällt Ruths Blick auf das voll beschriebene Blatt Papier. Sie beginnt zu lesen:

„Liebe Gemeinde! Vergessen Sie alles, was Sie schon über Weihnachten gehört oder gelesen haben. Lassen Sie sich einfach berühren von der Weihnachtsbotschaft. In Jesus Christus ist Gott Mensch geworden und hat uns dadurch seine bedingungslose Liebe erwiesen. Lassen Sie also die Liebe Gottes mitten in Ihr Herz hineinleuchten. Spüren Sie, dass Gott die Menschen liebt, dass er auch Sie liebt, so wie Sie sind, ja Sie ganz persönlich! In den Lichtern des Weihnachtsbaumes kommt das Licht Gottes in Jesus Christus direkt zu uns, in unsere Welt und in unsere Herzen hinein. Lassen Sie dieses Licht leuchten, lassen Sie sich einladen in die Gnade und Güte, die uns in diesem Licht entgegen kommt. Und lassen Sie dieses Licht ausstrahlen, geben Sie es weiter an ihre Mitmenschen, an die Welt. Lasst uns heute ganz einfach Gottes Liebe feiern. Lassen wir uns tief berühren von der Macht, der Kraft und der Liebe, aus der die Welt entstanden ist. Lassen wir uns annehmen von dieser Macht und nehmen wir einander an. Ich wünsche Ihnen ganz einfach ein schönes, friedliches und gesegnetes Weihnachtsfest, voller Licht und voller Liebe. Amen.“

Diese Geschichte war meine Predigt in der Christnachtfeier 2013. Sie ist übrigens völlig frei erfunden. Allfällige Ähnlichkeiten mit realen Situationen oder Personen sind reiner Zufall!

Rezension zum Buch „Sonntagsarbeit“ von Christiane Müller

In „Sonntagsarbeit“ berichtet Christiane Müller über ihren Alltag als Pfarrerin. In meist kurzen Geschichten und Anekdoten lässt sie uns teilhaben an den Freuden und Leiden dieses Berufes. Mit viel Humor, einem ausgesprochenen Sprachwitz und einer guten Portion Selbstironie gibt sie uns Einblick in oftmals kuriose Situationen ihres Pfarramtsalltages: Die vielen Geburtstagsbesuche, die unbedingt erwartet werden, der Kirchenvorstand, der die neue Pfarrerin beim Begrüssungsapéro fast ignoriert, die Schulklasse, die ihr den letzten Nerv raubt. Oftmals kommt man beim Lesen ins Schmunzeln, manchmal möchte man den Kopf schütteln oder auch laut herauslachen. Ganz offen und ungeschminkt berichtet Christiane Müller auch von eigenen Fehlern und Peinlichkeiten, die ihr passiert sind. Bei aller Ernsthaftigkeit, die dem Pfarrerberuf zu eigen ist, bekommt man den Eindruck, dass vieles auch einen gewissen Humor verträgt. Oder dass sich manche Dinge überhaupt nur mit einer guten Prise Humor aushalten lassen. Dazu zitiert Christiane Müller eine Kollegin mit dem treffenden Satz: „Humor ist, wenn man trotzdem Christ bleibt“.

Doch neben all der Situationskomik versteht es die Autorin auch, leise, feinfühlige und nachdenkliche Töne anzuschlagen. Zum Beispiel wenn sie über ihr fast freundschaftliches Verhältnis zum Tod spricht. Oder von ihrer Zeit im Kloster, von ihrer Spiritualität und der Suche nach ihrer eigenen Berufung. Oder wenn sie uns an bewegenden und berührenden Lebensgeschichten ihrer Mitmenschen teilhaben lässt.

Beim Lesen wird deutlich, dass Christiane Müller ihren Beruf liebt und gleichzeitig an den Umständen ihrer Arbeit leidet: An Engstirnigkeit und Kleinkariertheit im kirchlichen Umfeld, an der übergrossen Arbeitsbelastung, an den Arbeitsbedingungen, die kaum Freizeit und Privatleben zulassen. So stimmt das Ende des Buches auch nachdenklich und fast ein bisschen traurig: Nach zwölf Jahren im Pfarramt mit zwei Stellenwechseln fühlte Christiane Müller sich „ausgelutscht“, bekam psychosomatische Beschwerden und beschloss, zumindest vorläufig aus dem Pfarramt auszusteigen. Sie ist nun für zwei Jahre beurlaubt, ihre berufliche Zukunft ist offen.

Insofern hat dieses Buch auch eine kirchenpolitische Dimension. Es stellt sich die Frage, wie lange die Kirche es sich noch leisten kann, solch motivierte, begabte und kompetente Leute durch unzeitgemässe Arbeitsbedingungen zu vergraulen.

„Sonntagsarbeit“ ist ein Buch für alle, die einmal einen Einblick hinter die Kulissen eines Pfarramtes werfen wollen sowie für Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich wohl in einigen der Erzählungen wiederfinden werden. Die gute Mischung aus geschliffener Sprache, Humor und Nachdenklichkeit machen die Stärke dieses Buches aus. Es ist wirklich ein Buch über „gelebtes Leben“, wie es im Klappentext heisst.

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Die alte und die neue Bibel

Ich habe mir eine Bibel gekauft. Für eine Theologin klingt das vielleicht etwas ungewöhnlich; man sollte meinen, dass ich schon eine habe. Das stimmt auch. Aber ich habe eine neue Bibel gebraucht, weil meine alte langsam am auseinanderfallen ist. Auch wenn ich mehrere Bibelausgaben und –Übersetzungen besitze, ist dies eben doch ein besonderes Exemplar.

Die alte Bibel habe ich mir im Jahr 1985 gekauft, als ich gerade mein Theologiestudium angefangen hatte. Es handelt sich um eine Lutherbibel in der revidierten Fassung von 1984, sie ist also damals ganz neu erschienen. Sie war, unter Wahrung der typischen Luther-Sprache, an die heutige Sprache neu angepasst worden, nachdem man festgestellt hatte, dass die alte Lutherübersetzung immer schwerer verständlich wurde.

So begann ich also mein Theologiestudium mit einer nagelneuen Bibel. Diese Bibel hat mich durch mein ganzes Studium hindurch begleitet – und danach auch durch mein ganzes bisheriges Pfarrerinnenleben, also inzwischen insgesamt 30 Jahre lang. Ich wundere mich, dass dieses Buch nicht schon längst völlig zerfleddert ist.

Auch wenn ich häufig andere Bibelübersetzungen verwende und neuerdings auch hin und wieder auf die elektronische Bibel zurückgreife, ist doch diese Ausgabe diejenige, die ich auch heute noch am meisten zur Hand nehme. Ich gebe zu, dass ich auch nach 27 Jahren in der Schweiz mich nie wirklich an die Zürcher Übersetzung gewöhnen konnte. Da liegt mir die Einheitsübersetzung näher oder, wenn es zum Vorlesen sehr gut verständlich sein soll, auch mal die „Gute Nachricht“ im heutigen Deutsch. Doch die gute alte Lutherbibel ist mir nach wie vor im Wortlaut am vertrautesten.

Die Formulierung aus Jesaja 43: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! klingt für mich einfach flüssiger, weniger sperrig und auch irgendwie poetischer als z.B. das Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir  in der Version der Einheitsübersetzung. Aber ich bin mir bewusst, dass es hier vor allem um Gewohnheiten und persönliche Vorlieben geht.

Im Theologiestudium war es sowieso üblich, mit dem Urtext auf dem Pult in der Vorlesung zu sitzen, und es gab immer Leute, die mit der grössten Selbstverständlichkeit in der Biblia Hebraica oder dem Novum Testamentum Graece herumblätterten, so als seien sie in der eigenen Muttersprache geschrieben. Ich kenne aber wenig Theologiestudierende, die nicht öfters mehr oder weniger verstohlen die deutsche Übersetzung zur Hilfe nahmen.

Nun habe ich also eine neue Bibel, ebenfalls wieder eine Lutherbibel. Es ist mir nicht leicht gefallen, mein altes Exemplar sozusagen in Pension zu schicken. Auch wenn die neue Bibel eigentlich den gleichen Text hat, ist sie für mich doch anders, noch etwas fremd und eben noch nicht so ganz „meine“. In meiner alten Bibel sind so viele Spuren zu entdecken von meiner Arbeit mit diesen Texten. Notizen am Rand, alle mit Bleistift angefertigt, Markierungen von besonders wichtigen Stellen, Striche, wo ein bestimmter Textabschnitt anfängt und aufhört, Einrahmungen wichtiger Stellen, die Nummerierung der sieben Schöpfungstage, ein dicker Strich beim „geschichtlichen Credo“ in Deuteronomium 26. Auch Spuren des Pfarramtes sind gut sichtbar: Pfeile und Striche, wo jeweils eine Lesung beginnen und enden sollte, die Markierung von Psalmen, die sich für Lesungen in der Seelsorge besonders gut eignen. Manchmal auch durchgestrichene Passagen, die ich beim Vorlesen gerne auslasse, wie z.B. im ansonsten wunderschönen Psalm 139 die Verse 19 – 22, in denen hasserfüllt den Gottlosen der Tod gewünscht wird. Und manche Seiten sind bereits zerfleddert oder sogar etwas eingerissen, z.B. bei Lukas 2, an der ich jede Weihnacht Lesezeichenkleber angebracht und wieder entfernt habe.

An dieser Bibel ist meine persönliche Beziehung zu diesem Buch sichtbar geworden. Ich sage aber ganz offen, dass ich keine Fundamentalistin bin.  Die Bibel ist meiner Ansicht nach weder vom Himmel gefallen noch von Gott diktiert worden. Sie wurde von Menschen geschrieben. Insofern ist sie für mich ein Gebrauchs- und Forschungsgegenstand. Die Menschen haben darin ihre Lebens- und Gotteserfahrungen verarbeitet. Darum sind diese Texte auch oft so spannend, bewegend, berührend, manchmal allzu menschlich, mal erbaulich und manchmal eben auch verstörend. Sie erzählen mir, wie Menschen nach Gott suchten und fragten, wie sie mit Gott rangen und immer wieder auch Gott begegneten, Wunder erlebten und neue Lebensperspektiven fanden. Es ist ein Buch, mit dem ich mich schon über die Hälfte meines Lebens auseinandersetze, mich daran reibe, manchmal auch innerlich streite, um doch immer wieder Überraschendes, Berührendes und Neues darin zu finden. Und für mich grenzt es schon fast an ein Wunder, dass ich in diesen uralten Texten immer wieder Stoff entdecke, den ich in Gesprächen und Predigten entfalten und mitteilen kann, der neue Denkanstösse hervorbringt, die ich mit anderen Menschen teilen und für unser Leben fruchtbar machen kann.

Nun werde ich mit der neuen Bibel unterwegs sein. Mit der Zeit wird auch sie immer mehr Spuren des Gebrauches bekommen. Aber ich werde nach und nach meine Eintragungen aus der alten Bibel in die neue übertragen. Auf diesen Erfahrungsschatz möchte ich nicht verzichten.

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Dieser Text wird im Mai als Editorial der „Reformiert“-Gemeindeseite, Ausgabe Thierachern, Wichtrach, Gerzensee und Kirchdorf erscheinen.