Auch dieses Jahr verbrachte ich zum Jahreswechsel wieder drei Tage alleine in den Bündner Bergen. Ich brauche diesen Kurzurlaub, um mich von den anstrengenden Weihnachtstagen zu erholen, dem drohenden „Feiertagskoller“ zu entfliehen und zum Übergang der Zeiten einfach mal ganz für mich zu sein. Und nicht zuletzt um eine Gegend zu besuchen, die für mich so etwas wie eine „Herzensheimat“ ist.
Neben der Zugfahrt hin und zurück, die für mich ebenfalls schon Urlaub bedeutet, konnte ich in den zwei Tagen Aufenthalt vieles unternehmen: mich von der Rhätischen Bahn durch die Kehrtunnels schaukeln lassen, die „längste Schlittelbahn Europas“ herunterschlitteln, eine Zeitreise zum schwindenden Morteratschgletscher unternehmen, natürlich wellnessen und abends im Hotelzimmer Rück- und Vorschau auf das alte und das neue Jahr halten.
Den eindrücklichsten Moment erlebte ich jedoch bei einer meiner Wanderungen durch die Winterlandschaft der Albula-Region. Im Weiler Stuls, der nur aus wenigen Häusern besteht, gelangte ich zu einem kleinen Kirchlein, das ursprünglich ein Oratorium, also ein Gebetsraum für durchziehende Wanderer war. Von aussen sieht es zwar klein und unscheinbar aus, in seinem Inneren birgt es jedoch unermessliche Schätze: Die Seitenwände und die Decke sind rundum mit wunderschönen Fresken ausgemalt. Die Bilder aus dem 14. Jahrhundert haben eine starke Ausdruckskraft. Sie vermitteln uns etwas von der mittelalterlichen Spiritualität, zu deren Tiefe und Unmittelbarkeit wir in der heutigen Zeit kaum noch Zugang haben.
Die Darstellungen erzählen aus dem Leben Jesu; vor allem die Passionsgeschichte nimmt grossen Raum ein. Zu sehen ist Jesus, der beim Abendmahl dem Judas das Brot reicht (Jesu Zuwendung gilt dem Menschen, der sie in seiner Gebrochenheit am meisten nötig hat), der die Geisselung und den Gang zum Kreuz mit grosser Sanftmut erträgt und der schliesslich nach seinem Tod von seinen Getreuen mit inniger Zärtlichkeit vom Kreuz genommen und betrauert wird.
Das Eindrücklichste ist jedoch das Deckengemälde. In der Rundung des Gewölbes thront Christus in der regenbogenfarbigen Mandorla, die Hand zum Segen erhoben.
Obwohl ich die biblischen Geschichten bereits zur Genüge durchexegetisiert und schon zahlreiche Darstellungen davon gesehen habe, berühren mich die Bilder in der Kirche Stuls zutiefst. In diesem kleinen Raum, der mit seinem Tonnengewölbe eine tiefe Geborgenheit vermittelt, erlebte ich einen spirituellen Moment. Die Bilder brachten etwas tief in meinem Innersten in Schwingung, das ich mit Worten nicht beschreiben kann. So blieb ich ein paar Minuten und liess den Geist dieses Raumes auf mich wirken.
Bevor ich mich schliesslich zum Gehen wandte, stellte ich mich ganz bewusst unter das Deckenbild mit dem segnenden Christus. Da bekam ich das Gefühl, dass der göttliche Segen mich zu umhüllen und durchdringen schien. Die Inschrift in der Chorwand erinnerte mich daran, dass die göttliche Kraft allzeit bei mir sein würde.
So verliess ich die Kirche, konnte meinen Weg fortsetzen und gesegnet in das neue Jahr gehen.
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