Solange die Erde steht…

Dieser Text erschien als „Wort zum Sonntag“ im Thuner Tagblatt“ am 6.11.21.

Es ist November geworden. Draussen ist es kühl, die Sonne hängt tiefer, und am Abend wird es bereits früh dunkel. Die Natur präsentiert sich noch einmal in ihren leuchtendsten Farben, bevor alles in winterliches Grau getaucht sein wird.

Auch unsere Lebensgewohnheiten haben sich verändert. Man kann nicht mehr so lange draussen sitzen, warme Jacken und Schuhe wurden wieder hervorgeholt, man bleibt wieder mehr zuhause, das Leben ist besinnlicher und ruhiger geworden. In dieser Zeit werden viele Menschen nachdenklich. Keine andere Jahreszeit führt uns so sehr die Veränderung und Vergänglichkeit des Lebens vor Augen. Nicht zufällig werden in dieser Zeit auch Ewigkeitssonntag und Allerseelen zum Gedenken der Verstorbenen gefeiert – in der dunklen Zeit des Jahres, bevor dann das Licht des Advents unser Leben erhellt.

Der Herbst als Übergang zwischen Sommer und Winter macht uns bewusst, dass unser ganzes Leben einem Rhythmus unterliegt: Sommer und Winter, Wärme und Kälte, Tag und Nacht, Werden und Vergehen.

Dieser Rhythmus der Natur wird in der Bibel in einem schönen Vers in der Noahgeschichte beschrieben. Als Noah nach der Sintflut mit seiner Familie und all den Tieren wieder an Land gehen kann, gibt Gott dieses Versprechen ab: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ (1. Mose 8, 22) Gott wird von nun an nie mehr die Erde zerstören, so böse die Menschen auch sein sollten. Gott ist der Garant dafür, dass der Rhythmus seiner Schöpfung immer weitergehen wird.

Der Rhythmus der Tage, der Wochen, der Monate und der Jahreszeiten prägt und gestaltet unser Leben. Er gibt uns Orientierung und Halt.

Tag und Nacht, Sommer und Winter sind Gegensätze. Und trotzdem – oder gerade deswegen – gehören sie zusammen, sie brauchen einander. Was wäre ein Leben ohne diese Pole, die einander abwechseln im steten Rhythmus? Es wäre wohl langweilig und eintönig. Der Wechsel zwischen Aktivität und Ruhe, Kontakt und Rückzug gestaltet unser Leben. Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht sind in ihrem ewigen Fortlauf in der Schöpfung angelegt. Wir dürfen daran teilhaben.

Es ist Herbst – eine Zeit der Veränderungen. Auch wenn wir uns vielleicht nicht auf die Zeit der Kälte und Dunkelheit freuen – akzeptieren wir auch solche Zeiten als Teil unseres Lebens! Licht und Dunkelheit, Wärme und Kälte, Aktivität und Ruhe, Freude und Leid – beide Seiten gehören zum Leben, verleihen ihm Erfüllung und Sinn.

Geniessen wir doch die Farben des Herbstes, freuen wir uns auf Abende in der warmen Stube, schauen wir vorwärts auf die glanzvolle Advents- und Weihnachtszeit, hoffen wir auf schöne Tage im Schnee.

Der Rhythmus des Lebens lässt uns darauf vertrauen: Selbst nach der schwärzesten Nacht wird wieder ein neuer Tag aufscheinen, und selbst nach dem kältesten Winter wird ein neuer Frühling erblühen.

Wie durch einen Spiegel

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In Zürich wird der Zug voll. Ich beschliesse, mir ein 1.-Klasse-Billett zu leisten und wechsle den Waggon. Hier, in einem bequemen Sessel, mit meiner Lieblingsmusik in den Ohren, kann ich in Ruhe die Landschaft an mir vorbeiziehen lassen und meinen Gedanken nachhängen.

Es ist der 8. August 2012. Ich bin auf dem Heimweg von einer Beerdigung. Ausnahmsweise einmal eine, die ich nicht selber gehalten habe. Ich war dabei als „Trauergast“ oder wie man das nennt. Ein Kollege aus meiner Coaching-Ausbildung wurde beerdigt. Zu Anfang des letzten Ausbildungsjahres hatte er uns überraschend mitgeteilt, dass er eine vernichtende Krebsdiagnose erhalten habe und daher die Ausbildung abbrechen müsse. Er kam dann noch in unser nächstes Seminar, um sich zu verabschieden. Mit viel Galgenhumor erzählte er uns von seiner Situation, es wurde viel gelacht. Doch in seinen Augen konnte ich die Angst sehen. Nur wenige Monate später kam dann die Todesanzeige.

Zwei Jahre lang war ich mit ihm zusammen in einer Arbeitsgruppe gewesen. Wir waren gemeinsam auf dem Weg durch unsere Ausbildung, haben viel zusammen gearbeitet, diskutiert, gelacht, uns einander unterstützt, nach Erkenntnissen gesucht, manchmal auch miteinander gerungen. Jetzt ist er tot.

Die Pfarrerin hatte ein gutes Gespür, obwohl sie den Verstorbenen nicht gekannt hat. Sie hat für ihre Ansprache intuitiv den Bibeltext ausgewählt, den ich an ihrer Stelle auch für meinen Kollegen ausgesucht hätte:

Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.

Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. (1. Korinther 13, 8 – 13)

Ja, so ist es, alles Erkennen ist unvollkommen. Wir sehen wie durch einen Spiegel. Man muss dabei wissen, dass in damaliger Zeit die Spiegel nicht so klare Bilder zurückwarfen wie heute. Vielleicht ist auch der Wasserspiegel damit gemeint.

Der Zug rollt weiter durch die hochsommerliche Landschaft. Ich frage mich, was mein Kollege, sofern er wirklich etwas sehen kann, jetzt wohl sieht, „von Angesicht zu Angesicht“. Ich würde es ihm jedenfalls gönnen. Er war irgendwie auf der Suche, so wie ich auch.

„La vita è bella cosi com’è“, tönt eines meiner Lieblingslieder in meinen Ohren. Ja, das Leben ist schön, und es ist zerbrechlich. Der Tod meines Kollegen hat in mir wieder altbekannte Ängste wachgerufen: Wann trifft mich das gleiche Schicksal? Man sollte das Leben geniessen, gerade weil es jederzeit zu Ende sein kann. Aber darf ich das angesichts des Schicksals meines Kollegen? Kann ich es mir einfach so gut gehen lassen, den Sommer geniessen, meine Ausbildung beenden – und er musste sterben? Ich komme mir vor wie die einzige Überlebende eines Unglückes. Ich habe irgendwie ein schlechtes Gewissen, weil ich noch leben darf und er nicht. Und ich habe Angst, weil ich wieder gesehen habe, wie fragil das Leben ist, und dass es jeden jederzeit treffen kann.

Die inzwischen abendliche Sonne taucht die Landschaft in ein warmes Licht. Und da ist mir, als hörte ich die Stimme meines Kollegen, der zu mir sagt: „Mache dir keine Sorgen um mich, mir geht es jetzt gut. Aber leb‘ DU jetzt mal dein Leben!“

Ja, er hat Recht, ich sollte mein Leben leben, gerade jetzt! Ganz intensiv, aus dem Vollen schöpfend, in Wertschätzung für das Schöne und Gute, das es mir bietet. Das Leben beim Schopf packen, anstatt mich von Ängsten bremsen zu lassen. Mich einbringen in die Welt, so wie es mir entspricht. Nicht müde werden, nach der Wahrheit zu suchen, auch wenn wir Lebenden sie nur erkennen können wie durch einen trüben Spiegel.

Ich glaube sogar, dass wir das den Verstorbenen irgendwie schuldig sind, vielleicht gerade weil sie es selber nicht mehr können. Dass wir sozusagen stellvertretend für sie leben sollen und nicht darin nachlassen, das Gute und Schöne in die Welt zu bringen. Nicht aus schlechtem Gewissen, sondern aus Dankbarkeit dafür, dass wir am Leben sind.

Schon morgen früh werde ich in den Feldern hinter meinem Haus joggen gehen und den Duft des Sommers einatmen, obwohl ich eigentlich keine Zeit dazu habe. Schon morgen werde ich beginnen, den Kontakt zu vertiefen zu Menschen, die mir wertvoll sind.

Dieser Tag ist nun vier Jahre her. Heute weiss ich: Diese Zugfahrt hat etwas in meinem Leben verändert. Nicht das Leben selber. Aber meine Haltung zum Leben.

Danke, Chrigel!

Die alte und die neue Bibel

Ich habe mir eine Bibel gekauft. Für eine Theologin klingt das vielleicht etwas ungewöhnlich; man sollte meinen, dass ich schon eine habe. Das stimmt auch. Aber ich habe eine neue Bibel gebraucht, weil meine alte langsam am auseinanderfallen ist. Auch wenn ich mehrere Bibelausgaben und –Übersetzungen besitze, ist dies eben doch ein besonderes Exemplar.

Die alte Bibel habe ich mir im Jahr 1985 gekauft, als ich gerade mein Theologiestudium angefangen hatte. Es handelt sich um eine Lutherbibel in der revidierten Fassung von 1984, sie ist also damals ganz neu erschienen. Sie war, unter Wahrung der typischen Luther-Sprache, an die heutige Sprache neu angepasst worden, nachdem man festgestellt hatte, dass die alte Lutherübersetzung immer schwerer verständlich wurde.

So begann ich also mein Theologiestudium mit einer nagelneuen Bibel. Diese Bibel hat mich durch mein ganzes Studium hindurch begleitet – und danach auch durch mein ganzes bisheriges Pfarrerinnenleben, also inzwischen insgesamt 30 Jahre lang. Ich wundere mich, dass dieses Buch nicht schon längst völlig zerfleddert ist.

Auch wenn ich häufig andere Bibelübersetzungen verwende und neuerdings auch hin und wieder auf die elektronische Bibel zurückgreife, ist doch diese Ausgabe diejenige, die ich auch heute noch am meisten zur Hand nehme. Ich gebe zu, dass ich auch nach 27 Jahren in der Schweiz mich nie wirklich an die Zürcher Übersetzung gewöhnen konnte. Da liegt mir die Einheitsübersetzung näher oder, wenn es zum Vorlesen sehr gut verständlich sein soll, auch mal die „Gute Nachricht“ im heutigen Deutsch. Doch die gute alte Lutherbibel ist mir nach wie vor im Wortlaut am vertrautesten.

Die Formulierung aus Jesaja 43: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! klingt für mich einfach flüssiger, weniger sperrig und auch irgendwie poetischer als z.B. das Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir  in der Version der Einheitsübersetzung. Aber ich bin mir bewusst, dass es hier vor allem um Gewohnheiten und persönliche Vorlieben geht.

Im Theologiestudium war es sowieso üblich, mit dem Urtext auf dem Pult in der Vorlesung zu sitzen, und es gab immer Leute, die mit der grössten Selbstverständlichkeit in der Biblia Hebraica oder dem Novum Testamentum Graece herumblätterten, so als seien sie in der eigenen Muttersprache geschrieben. Ich kenne aber wenig Theologiestudierende, die nicht öfters mehr oder weniger verstohlen die deutsche Übersetzung zur Hilfe nahmen.

Nun habe ich also eine neue Bibel, ebenfalls wieder eine Lutherbibel. Es ist mir nicht leicht gefallen, mein altes Exemplar sozusagen in Pension zu schicken. Auch wenn die neue Bibel eigentlich den gleichen Text hat, ist sie für mich doch anders, noch etwas fremd und eben noch nicht so ganz „meine“. In meiner alten Bibel sind so viele Spuren zu entdecken von meiner Arbeit mit diesen Texten. Notizen am Rand, alle mit Bleistift angefertigt, Markierungen von besonders wichtigen Stellen, Striche, wo ein bestimmter Textabschnitt anfängt und aufhört, Einrahmungen wichtiger Stellen, die Nummerierung der sieben Schöpfungstage, ein dicker Strich beim „geschichtlichen Credo“ in Deuteronomium 26. Auch Spuren des Pfarramtes sind gut sichtbar: Pfeile und Striche, wo jeweils eine Lesung beginnen und enden sollte, die Markierung von Psalmen, die sich für Lesungen in der Seelsorge besonders gut eignen. Manchmal auch durchgestrichene Passagen, die ich beim Vorlesen gerne auslasse, wie z.B. im ansonsten wunderschönen Psalm 139 die Verse 19 – 22, in denen hasserfüllt den Gottlosen der Tod gewünscht wird. Und manche Seiten sind bereits zerfleddert oder sogar etwas eingerissen, z.B. bei Lukas 2, an der ich jede Weihnacht Lesezeichenkleber angebracht und wieder entfernt habe.

An dieser Bibel ist meine persönliche Beziehung zu diesem Buch sichtbar geworden. Ich sage aber ganz offen, dass ich keine Fundamentalistin bin.  Die Bibel ist meiner Ansicht nach weder vom Himmel gefallen noch von Gott diktiert worden. Sie wurde von Menschen geschrieben. Insofern ist sie für mich ein Gebrauchs- und Forschungsgegenstand. Die Menschen haben darin ihre Lebens- und Gotteserfahrungen verarbeitet. Darum sind diese Texte auch oft so spannend, bewegend, berührend, manchmal allzu menschlich, mal erbaulich und manchmal eben auch verstörend. Sie erzählen mir, wie Menschen nach Gott suchten und fragten, wie sie mit Gott rangen und immer wieder auch Gott begegneten, Wunder erlebten und neue Lebensperspektiven fanden. Es ist ein Buch, mit dem ich mich schon über die Hälfte meines Lebens auseinandersetze, mich daran reibe, manchmal auch innerlich streite, um doch immer wieder Überraschendes, Berührendes und Neues darin zu finden. Und für mich grenzt es schon fast an ein Wunder, dass ich in diesen uralten Texten immer wieder Stoff entdecke, den ich in Gesprächen und Predigten entfalten und mitteilen kann, der neue Denkanstösse hervorbringt, die ich mit anderen Menschen teilen und für unser Leben fruchtbar machen kann.

Nun werde ich mit der neuen Bibel unterwegs sein. Mit der Zeit wird auch sie immer mehr Spuren des Gebrauches bekommen. Aber ich werde nach und nach meine Eintragungen aus der alten Bibel in die neue übertragen. Auf diesen Erfahrungsschatz möchte ich nicht verzichten.

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Dieser Text wird im Mai als Editorial der „Reformiert“-Gemeindeseite, Ausgabe Thierachern, Wichtrach, Gerzensee und Kirchdorf erscheinen.