Ich bin in Frankfurt am Main aufgewachsen. In den siebziger Jahren verbrachte ich dort meine Kindheit. Ich lebte in einer heilen Welt, in einer intakten, modernen Stadt. Im Laufe der Jahre konnte man zuschauen, wie nach und nach immer mehr Wolkenkratzer in die Höhe schossen, U-Bahn Linien gebaut und Fussgängerzonen eingerichtet wurden.
Nur manchmal, wenn wir mit dem Auto in die Innenstadt fuhren, gab es einen Anblick, der mich erschaudern liess. Inmitten dieser modernen, intakten Stadt stand wie eine klaffende Wunde die riesige Ruine eines alten, einst wohl prächtigen Gebäudes. Es war die Alte Oper, erbaut 1880, die im Krieg zerstört und noch immer nicht wieder aufgebaut worden war. Von dem Gebäude standen nur noch die Fassaden. Die nicht mehr vorhandenen Fenster gaben den Blick ins Innere frei, wo riesige Löcher im Boden klafften, dort, wo einst die Bomben eingeschlagen waren.
Der Anblick war für mich jedesmal erschreckend und gleichzeitig faszinierend. An der Ruine der Alten Oper konnte ich erkennen, dass ich in einer Stadt lebte, in der vor noch nicht allzu langer Zeit ein furchtbarer Krieg gewütet haben musste.
Im Laufe der Zeit erfuhr ich etwas über den 2. Weltkrieg. Und so nach und nach wurde mir auch klar, dass auch mein Vater, Jahrgang 1918, selber in diesem Krieg als Soldat gekämpft hatte. Dass er für den Marschbefehl eine hoffnungsvolle Karriere als Balletttänzer aufgeben musste. Dass er mehrmals nur knapp – um Sekundenbruchteile und Millimeter – mit dem Leben davongekommen war. Dass eine Malaria ihm das Leben rettete, weil er im Lazarett lag, während seine Kameraden in einen Hinterhalt gerieten. Und dass er das unverschämte Glück hatte, körperlich so unversehrt zu bleiben, dass er nach dem Krieg seine Ballett-Karriere wiederaufnehmen konnte. Seine seelischen Verletzungen konnte ich nur erahnen.
Viel mehr konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Mein Vater hat nie viel über den Krieg gesprochen. Nur eines sagte er immer wieder mit Nachdruck: Dass er sich lieber umbringen oder erschiessen lassen würde, als noch einmal in einen Krieg zu ziehen.
Doch zurück zur Alten Oper. Der Wiederaufbau zog sich hin. Lange Jahre wurde um die Finanzierung gerungen. Dazu kamen politische Diskussionen um die Nutzung dieses Hauses, nachdem die Frankfurter Oper längst in einem nüchternen Nachkriegsbau spielte. Sollten in der Alten Oper nur gediegene Anlässe für ein gutbetuchtes Publikum stattfinden? (CDU) – Oder sollte es ein „Haus für alle“ werden mit Jugendräumen etc.? (SPD, Grüne gab es damals noch nicht).
1981 war es dann endlich so weit. Die neue Alte Oper wurde feierlich eröffnet. Sie ist prächtiger als je zuvor. In ihr finden viele kulturelle Anlässe statt, von klassischer Musik bis zu Musicals, Jazz- und Popkonzerten.
Doch das Bild von der Ruine hat sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Besonders die Inschrift, die damals wie heute an der Fassade prangt: DEM WAHREN SCHOENEN GUTEN.
Damals kam es mir irgendwie grotesk vor: Als wäre diese Ruine ein Mahnmal dafür, was aus dem Streben nach dem Wahren, Schönen und Guten (oder was man dafür gehalten hatte) schlussendlich geworden war; wie ein Paradox standen da die Überreste von Idealen, aus denen schliesslich das Gegenteil des Wahren, Schönen und Guten offenbar geworden war. Und die Ruine der Alten Oper war ja bei Weitem nicht der grauenhafteste Anblick, den der 2. Weltkrieg hervorgebracht hat.
Immer, wenn irgendwo vom Wahren, Schönen und Guten die Rede ist, kommt mir die Ruine der Alten Oper in den Sinn. Und ich denke daran, was aus solch hehren Idealen werden kann.

Obiges Foto der Alten Oper mit freundlicher Genehmigung von Kurt Liese – harald-reportagen.de