Können Worte töten?

Vergangene Woche wurde in einer britischen Kleinstadt die Politikerin Jo Cox auf offener Strasse brutal ermordet.

Jo Cox war eine aufstrebende Labour-Abgeordnete, die sich mit Leidenschaft für ihre Ziele und Ideale einsetzte: Für soziale Gerechtigkeit, für eine humanitäre Flüchtlingspolitik, für Menschenrechte, für die Gleichberechtigung der Frau und nicht zuletzt für den Verbleib Grossbritanniens in der EU. Sie soll warmherzig und aufgeschlossen gewesen sein, sie solle, wie es in fast idealisierender Weise formuliert wird „niemals gehasst, sondern nur geliebt“ haben.

Ohne die Motive des Täters im Einzelnen zu kennen, ist es doch offensichtlich, dass es sich hierbei um einen politischen Mord handelt. Der Täter soll ein Anhänger der rechtsradikalen Szene sein. Auch wenn er tatsächlich ein Einzeltäter ist, muss diese Tat in einem grösseren Zusammenhang gesehen werden.

Die Diskussion in der Öffentlichkeit und in den sozialen Medien ist in letzter Zeit emotional aufgeladen und verläuft nicht selten hasserfüllt. In einer Atmosphäre, in der die Bezeichnung „Gutmensch“ bereits als übles Schimpfwort verstanden wird, verkörpern Menschen wie Jo Cox für gewisse Leute das Feindbild schlechthin. In der letzten Zeit, in der die Diskussion um den „Brexit“ und das damit verbundene Thema Migration immer gehässiger geführt wird, bekamen Jo Cox und viele andere Politikerinnen Mord- und Gewaltandrohungen vom Übelsten. Bei Frauen kommen dann noch die oft plastisch ausformulierten Vergewaltigungsdrohungen dazu.

Jo Cox liess sich davon nicht beirren. Nun hat einer diese Drohungen wahr gemacht. Jetzt sind alle betroffen. Man fragt sich: Wie konnte es zu so einer schrecklichen Tat kommen?

Wenige Tage vorher wurde in Orlando in einem Schwulenclub ein Massaker mit 49 Toten angerichtet. Auch diese Tat kann man als Verbrechen eines irregeleiteten Einzeltäters abtun. Doch auch diese Tat wurde nicht erst dann vorbereitet, als der Mörder seinen teuflischen Plan fasste. Solche Taten beginnen schon viel früher, in den Medien, in Diskussionen auf der Strasse und an den Stammtischen, in den Kommentarspalten von Facebook und Twitter. Solche Taten werden durch Worte vorbereitet. Worte sind nicht harmlos. Worte können viel bewirken, im Guten wie im Schlechten. Und wie in diesem Fall deutlich wird: Worte können auch töten. Zumindest können sie einen Prozess von Hass und Verachtung auslösen, an dessen Ende ein Mord oder ein Massaker stehen kann.

Ich glaube, dass es genau das ist, was Jesus in seiner Bergpredigt gemeint hat:

Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: „Du sollst nicht töten«; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig. (Mt. 5, 21 – 22)

Jesus stellt hier das despektierliche Reden über einen Mitmenschen auf die gleiche Stufe wie einen Mord. Das ist sehr radikal. Aber die Fälle von Jo Cox und Orlando lassen uns darüber nachdenken, ob diese Radikalität nicht auch durchaus angebracht sein kann. Es genügt eben nicht, einfach nur zu sagen: „Du sollst nicht töten!“ Das Töten oder die Gewalt fängt schon viel früher an: Bei unseren Worten und Gedanken. Es nimmt seinen Anfang da, wo wir Menschen beschimpfen oder mit erniedrigenden Titeln belegen und damit ihre Würde in Frage stellen. Die Hemmschwelle zur Gewalt ist niedriger, wenn die Würde von Menschen nicht mehr respektiert wird. In der Nazi-Propaganda wurden die Juden als „Ungeziefer“ bezeichnet. Was macht man mit Ungeziefer? Man versucht, es auszurotten, mit Chemikalien oder mit Gas. Genau das haben die Nazis mit den Juden – also mit Menschen – schliesslich auch wirklich gemacht.

Wer einen Menschen beschimpft oder verunglimpft, bringt seine oft unbewussten Regungen zum Ausdruck. Besonders deutlich wurde mir das anhand des Satzes „Die Schweine von heute sind die Schinken von morgen.“ Ein Satz, den wir als Jugendliche immer lustig fanden, vor allem, wenn er gegen die „Spiesser“ gerichtet war, gegen die Kapitalisten etc. Bis mir einmal jemand erklärte, dass dieser Satz eigentlich einen unbewussten Tötungswusch zum Ausdruck bringt. Hier werden Menschen mit Schweinen verglichen, also mit Tieren, die als sehr unsauber gelten. Und wenn aus Schweinen Schinken werden soll, müssen sie geschlachtet werden. Dieser Satz drückt Hass, Verachtung und Aggression gegen eine bestimmte Menschengruppe zum Ausdruck gebracht. Ein solcher Satz drückt Gewalt aus, Gewalt, die sich irgendwann vielleicht konkret in einer Tat äussern kann. Es reicht, dass ein Einziger sich durch diese Hasskultur berufen fühlt, schliesslich tatsächlich zur Waffe zu greifen.

Dieses Phänomen geschieht zurzeit gehäuft in unserer Gesellschaft, in Europa und den USA: Politische Gegner wie auch gesellschaftliche Minderheiten werden diffamiert, herabgewürdigt, mit Beschimpfungen und Schmähungen belegt. Und dies nicht nur hinter vorgehaltener Hand. Es ist mittlerweile salonfähig geworden, in Fernsehdiskussionen, politischen Reden, Wahlkämpfen. Und die Propagandisten haben damit Erfolg. Sie werden gewählt. Und während sie sich in der Öffentlichkeit noch am Rande der Legalität bewegen, wird ihre Hasspropaganda von ihren Anhängern kopiert und verstärkt, oftmals unter dem Deckmantel des „Man wird doch wohl noch sagen dürfen…“.

Es braucht also gar nicht so viel Phantasie, um sich vorzustellen, welche gewalttätigen Regungen sich hinter gewissen Sprüchen und Kommentaren verbergen. Der Zusammenhang zwischen Worten („Man sollte die alle mal…“) und brennenden Flüchtlingsheimen ist in diesem Kontext offensichtlich. Die Gewalt, die an verschiedenen Orten zum Ausbruch kommt, wird in einem entsprechenden geistigen Klima vorbereitet. Es reicht schon, wenn auch nur Einzelne solchen Worten Taten folgen lassen. Und leider gibt es auch immer eine undefinierbare Masse, die dazu heimlich oder offen applaudiert.

Jesus hatte also schon damals die menschliche Psyche durchschaut, als er auf den Zusammenhang zwischen blossen Gedanken und Worten und der tatsächlichen Ausübung von Gewalt aufmerksam machte. Das sollte uns in Anbetracht der jüngsten Ereignisse zu denken geben.

Von weissen und schwarzen Schafen

Jetzt ist es wieder zu sehen, überall im Schweizerlande, auf Plakatwänden, in Zeitungsinseraten, auf bestimmten Internetseiten, und natürlich prangt es auch auf der Titelseite des „Extra-Blattes“, das die „Schweizerische Volkspartei“ in millionenfacher Auflage in alle Haushalte verschicken liess: Die Rede ist vom Schäfli-Plakat.

Bereits vor einigen Jahren hat diese Partei mit ebendiesem Sujet für ihre „Ausschaffungsinitiative“ geworben – und zwar erfolgreich. Die „Volksinitiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer“ wurde im Jahr 2010 von 53% der Stimmenden angenommen. Doch bevor das dazu ausgearbeitete Gesetz in Kraft treten kann, setzt die SVP noch einen drauf: Mit der Behauptung, ihr Anliegen sei „verwässert“ worden, lassen sie nun die sogenannte „Durchsetzunginitiative“ folgen, die das Gesetz bereits verschärfen soll. Es sollen keine Härtefälle geltend gemacht werden können, auch Personen, die in der Schweiz aufgewachsen, verwurzelt und gut integriert sind, sollen automatisch „ohne Wenn und Aber“ selbst bei Bagatelldelikten des Landes verwiesen werden, ohne dass ein Richter die Verhältnismässigkeit dieser Massnahme im Einzelfall überprüfen könnte. Am 28. Februar wird über diese Initiative abgestimmt. Umfragen zufolge hat sie guten Chancen, angenommen zu werden.

Dass diese Idee der Rechtsstaatlichkeit, den Menschenrechten sowie grundlegenden Werten widerspricht liegt auf der Hand. Ich möchte hier nicht die vielen stichhaltigen Gegenargumente wiederholen, die von Politikern, Juristen und diversen Organisationen ins Feld geführt werden, sondern auf einen ganz bestimmten Aspekt dieses Themas aufmerksam machen, nämlich auf das besagte „Schäfli-Plakat“.

ausschaffungsinitiative

Drei weisse Schafe befinden sich auf einem roten Feld mit Schweizer Kreuz, eines davon kickt mit einem Huftritt ein schwarzes Schaf aus diesem Feld hinaus.

Die rassistischen Implikationen des schwarzen Schafes liegen auf der Hand. Dazu kommt die Tatsache, dass dieses Bild ganz klar Gewalt zum Ausdruck bringt. Alles Andersartige, Fremde, nicht Konforme soll aus unserem Land „hinausgekickt“ werden. Gemeint sind damit Menschen.

Dieses Bild entlarvt, von welcher Gesinnung das Anliegen dahinter ist. Es enthüllt den zutiefst menschenverachtenden und fremdenfeindlichen Charakter der Initiative. Und der Schriftzug „Für eine sichere Schweiz“ suggeriert, man könne das Land sicher machen, indem man alles Störende und Unpassende aus seiner Mitte entfernt, als könne man auf diese Art so etwas wie einen gesunden Volkskörper schaffen, in dem alles Böse ausgerottet wäre.

Es ist der Geist hinter diesem Plakat, der mich zutiefst beunruhigt. Die Schäfli-Symbolik lässt vergessen, dass es hier um Menschen geht, die eine Würde haben, ungeachtet ihrer Nationalität oder auch ihrer Taten. Und Menschenwürde wird nicht erst durch physische Gewalt verletzt, sondern eben auch bereits durch Worte, Gedanken oder Bilder.

Das hat auch Jesus erkannt. In seiner Bergpredigt sagt er: Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: »Du sollst nicht töten«; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig. (Matthäus 5, 21-22, Luther-Übersetzung).

Was Jesus mit diesen überspitzten Formulierungen sagen will: Nicht erst eine ausgeführte Tat ist verwerflich, sondern schon die entsprechende Einstellung. Die hasserfüllten Gedanken. Die menschenverachtenden Phantasien. Die Abwertung und Ausgrenzung von ganzen Menschengruppen. Und sei es auch nur durch Bilder, Metaphern und Worte. Denn damit fängt alles an, was später in Unrecht und realer Gewalt münden kann. So harmlos das Schäfli-Plakat auch aussehen mag: Es bedient mit seiner Symbolik Aggressionen und unterbewusste Gewaltphantasien. Huftritte tun weh. Mit solchen Darstellungen wird in der Bevölkerung Stimmung gemacht. Der Weg von so einem Plakat bis zu einem brennendem Asylantenheim ist dann gar nicht mehr so weit wie man meinen könnte.

Natürlich, die Bevölkerung hat Angst vor Kriminalität. Aber es ist vor allem auch die Angst vor dem Andersartigen. Diese Ängste werden hier bewusst geschürt.

Auch ich habe Angst. Und zwar davor, dass das Land, in dem ich gerne lebe, ein immer unmenschlicheres Gesicht bekommt, immer unbarmherziger, gnadenloser und kälter wird, in dem das „Ohne Wenn und Aber“ über die Achtung der Menschenwürde dominiert. Ich habe Angst davor, dass der Geist, der hinter dem Schäfli-Plakat steht, sich immer mehr durchsetzt.

Setzen wir diesem Geist ein anderes Denken, Fühlen und Handeln entgegen, bevor es zu spät ist.

Nachtrag 1:

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Nachtrag 2:

In Thun haben bei einer Kontrolle zwei Asylbewerber Polizisten angegriffen. Sie konnten von der Polizei überwältigt werden. Dieser Angriff ist selbstverständlich durch nichts zu rechtfertigen. Ebenso wenig aber auch  das Verhalten einiger Passanten. Hier ein Augenzeugenbericht aus dem „Thuner Tagblatt“ vom 11.02.16:

„Um die Szene habe sich rasch eine Menschenmenge gebildet. «Das war regelrecht ein Mob, der teils rassistische Zwischenrufe von sich gab», so P.S.. Eine Person habe die Situation ausgenutzt und dem bereits überwältigten Mann zwei Tritte verpasst. Er und die Polizisten hätten gar keine Möglichkeit gehabt zu reagieren, sagt der Augenzeuge.“

Hier hat wohl jemand das Schäfli-Plakat allzu wörtlich genommen…