Diario Bolognese: Ein Jahr später

Nie hätte ich gedacht, dass mein Blog „Diario Bolognese“ noch einmal eine Fortsetzung finden würde – und schon gar nicht eine so traurige.

Ein Jahr ist es jetzt her, seitdem ich mich zu einem 2-wöchigen Sprachaufenthalt auf den Weg nach Bologna gemacht habe. In letzter Zeit gehen meine Gedanken wieder vermehrt in Richtung Italien und nach Bologna. Die Nachrichten aus Italien sind schockierend und machen mich sehr traurig.

Die Stadt Bologna, in der ich eine so schöne Zeit verbracht habe – wie mag es jetzt wohl dort aussehen, so fest im Griff der Ausgangssperre? Die Piazza Maggiore – leergefegt. Die Gässchen mit den Spezialitätenläden, das Uniquartier – menschenleer. Das quirlige, lebendige Bologna als Geisterstadt kann ich mir nicht so recht vorstellen. Auf der Facebookseite „Bologna Inside“ habe ich ein paar Bilder gesehen:

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Wie sehr habe ich mich noch letzten Herbst gefreut, als die Bilder von der Bewegung der „Sardinen“ von Bologna aus durch die Welt gingen. Unter dem Hashtag #Bolognanonsilega hatten sich viele Menschen auf der Piazza Maggiore versammelt – eng zusammenstehend wie Sardinen in der Dose – um gegen Salvini zu demonstrieren. Ein Bild, das jetzt wohl noch für lange Zeit unmöglich sein wird.

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Und wie mag es wohl den Menschen gehen, die ich damals kennengelernt habe?
Vor einigen Tagen habe ich Anna, meiner „Schlummermutter“ eine Mailnachricht geschrieben. Dass ich viel an sie denke und an die schöne Zeit in Bologna; dass die Nachrichten aus Italien mich sehr traurig machen. Und dass ich hoffe, es gehe ihr gut und sie sei gesund. Und am Schluss noch ein „Dio te tenga“ und „molto abbracci e baci“ an sie und ihren Kater.
Sie hat mir geantwortet, sie freue sich sehr von mir zu hören. Sie sei gesund wie auch alle anderen Leute in ihrem Bekanntenkreis. Aber sie sei „un po triste“. Ihren Blumenladen musste sie am 12. März schliessen.

Ob sie ihn je wieder wird öffnen können? Ob sie ihre Wohnung behalten kann? Solche Gedanken beschäftigen mich jetzt sehr. Was macht diese Krise aus Italien und seinen Menschen? Werde ich dieses Land einmal wieder so vorfinden, wie ich es kennen- und liebengelernt habe? Wird sich das Nord-Süd-Gefälle weiter verstärken? Der Populismus noch mehr erstarken? Oder wird Italien wieder neu aufleben können, wenn alles durchgestanden ist? Und wann wird das sein?

Die hässlichen Diskussionen zwischen Italien und Deutschland um die Eurobonds erschüttern mich. Ich hoffe, dass die dringend notwendige europäische Solidarität bald greifen wird. (Auch die Schweiz dürfte sich noch etwas solidarischer zeigen). Aber etwas mehr Sachlichkeit in der Diskussion wäre für alle heilsam.

Meine persönlichen Pläne bezüglich Italien musste ich ändern. Ende April wäre ich wieder zu einem Sprachaufenthalt aufgebrochen, dieses Mal nach Verona. Ich konnte den Kurs auf Ende August verschieben. Ob bis dann wieder eine Reise nach Norditalien möglich sein wird…? Momentan lerne ich Italienisch vom Sofa aus, was meinen Fortschritten nicht gerade sehr zuträglich ist. Aber ich bleibe dran.

Denn erst im Februar hatte ich den Plan gefasst, im Jahr 2022 meinen Studienurlaub anzutreten und in Palermo zu verbringen, um dort 3 Monate lang bei einem Hilfswerk mitzuarbeiten. Den Vorsatz, ein Mail mit einer Anfrage an das Hilfswerk zu schreiben – natürlich auf Italienisch – habe ich inzwischen wieder von meiner Pendenzenliste gestrichen. Die Leute dort haben jetzt sicher andere Probleme (z.B. die hungernde Bevölkerung zu versorgen) und wissen wohl selber nicht, was in 2 Jahren sein wird. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Meine Idee werde ich weiterverfolgen.

Nun hoffe ich sehr, dass Italien sich bald von diesem Drama erholen und eine Art Auferstehung erleben wird. Das gemeinschaftliche Singen der Menschen von den Balkonen, die vielen mutmachenden Voten wie „Tutto andrà bene“ oder „Ce la faremo“ und die Beleuchtung von Gebäuden in den italienischen Farben geben Kraft und Zuversicht.
Und im Blick auf mein eigenes Land, das im Verhältnis zur Bevölkerungszahl mit am schwersten betroffen ist, denke ich: Wir sitzen alle im gleichen Boot, wir sind alle eine grosse Menschheitsfamilie, wir sollten zusammenhalten, denn bewältigen können wir diese Krise nur gemeinsam.

Wie auch immer: Italien wird in meinem Herzen bleiben.

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P.S.: Meinen Blog „Diario Bolognese“ kann man jetzt im Zusammenhang und in der richtigen Reihenfolge lesen. Siehe https://nicolesblog.net/reiseblog-diario-bolognese/

Diario Bolognese – Epilog

Was bleibt

„Was, du bist schon zurück?!?“ wurde ich in letzter Zeit manchmal bei Begegnungen gefragt. Ich habe dann erklärt, dass ich meine Tagebuchaufzeichnungen erst nachträglich zu einem Reiseblog verarbeitet habe.

Nun ist mein Bologna-Aufenthalt bereits über sechs Wochen her. Die kreative Aufarbeitung der einzelnen Tage, die Ausformulierung der Beiträge, das Versehen der Texte mit Fotos und teilweise auch mit Musik-Links waren für mich eine schöne Rückschau auf meine Italien-Reise. So konnte ich das Erlebte Tag für Tag noch einmal nacherleben und so manches Mal auch wieder nachfühlen. Teilweise war dies für mich mit intensiven Gefühlen verbunden. So war ich beispielsweise tief berührt, als ich bei der Bearbeitung des Beitrages „L‘ultimo volo“ vom 7. Tag das dazu passende Musikvideo auswählte, oder als ich für den 12. Tag das Lied „Giulio“ mit dem weinenden Roberto Vecchioni anschaute, nachdem ich das Schicksal des jungen Mannes beschrieben hatte.

 

Durch das kreative Nacharbeiten wird diese Reise mit ihren vielen Eindrücken für mich noch lange Zeit in intensiver Erinnerung bleiben. Und wenn die Erinnerungen mal verblassen sollten, kann ich sie ja wieder nachlesen.
Dabei fand ich es besonders schön, meine Gedanken und Erlebnisse mit Anderen zu teilen und zu merken, dass manche Leute offenbar Freude daran haben, sie zu lesen. An dieser Stelle danke ich allen, die meine Beiträge mitverfolgt und manchmal auch darauf reagiert haben. So habe ich das Gefühl, diese Reise nicht ganz allein gemacht zu haben.

Was bleibt?
Vieles. Die Erfahrung, mich in einer fremden Gegend alleine zurechtzufinden, die Begegnung mit Menschen aus Italien und anderen Weltgegenden, das Eintauchen in den italienischen Alltag, die Herausforderung, mich in einer fremden Sprache zu verständigen, das Berührtwerden von uralter kirchlicher Kunst und die Konfrontation mit den Opfern von Gewalt (sowie mit den Versuchen, die Schuld zu vertuschen). Und auch die viele Musik, die mich durch diese Tage begleitet hat, vor allem von Lucio Dalla, Pippo Pollina und dem neu entdeckten Roberto Vecchioni. Diese Reise wäre viel ärmer gewesen ohne die Musik.

Und das Italienisch? – Ich werde dranbleiben, habe ich mir vorgenommen, sonst wäre das viele Lernen umsonst gewesen. Und wenn ich mich frage, wofür ich das eigentlich mache, fällt mir ein, dass ich ja irgendwann in den nächsten Jahren auch noch vier Monate Sabbatical zugute habe. So langsam strecke ich diesbezüglich meine Fühler in Richtung Italien aus. Mal sehen, was sich da so ergibt.
Schon sehr bald steht meine nächste Italienreise an, nur für wenige Tage und etwas weiter südlich…

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Diario Bolognese – Rückreise

Dieses Mal erwische ich den richtigen Zug nach Milano und kann endlich erleben, wie schnell die Reise zwischen den beiden Städten gehen kann. Inzwischen kenne ich mich mit den italienischen Zügen gut aus; mir ist jetzt bekannt, dass der Hochgeschwindigkeitszug „Frecciarossa” heisst und ich weiss auch, wie ich im Internet ausführliche Fahrplaninformationen finden kann. Was mir auf der Hinfahrt passiert ist, würde mir also jetzt nicht mehr passieren.
Halb dösend lasse ich die Landschaft der Po-Ebene an mir vorbeiziehen.

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In Milano stelle ich fest, dass der Zug in die Schweiz zehn Minuten Verspätung hat. Zeit genug, um auf den Bahnhofsvorplatz zu gehen und mir diesen Monumentalkoloss von Bahnhof einmal von aussen anzusehen. Die Architektur ist eindrücklich, aber auch erdrückend. Meine Vermutung, dass die Faschisten beim Bau ihre Finger im Spiel hatten, kann ich später durch Wikipedia bestätigen.

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Das Einsteigen in den Zug ist wieder einmal gewohnt chaotisch, die wenigen Kofferabstellplätze sind bereits durch Fahrräder belegt, ich stelle meinen Koffer also halb in den Gang. Dann geniesse ich die Fahrt durch die norditalienische Landschaft in der Abendsonne. Sogar ein paar Blicke auf den Lago Maggiore kann ich erhaschen.

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Domodossola – ich nähere mich der Schweizer Grenze. Das Zuhause rückt näher mit allem, was ich dort zurückgelassen habe.
Ich hatte Michael gesagt, dass ich von ihm keinen Grossputz erwarten würde, aber die Wohnung bei meiner Rückkehr in ungefähr ähnlichem Zustand vorfinden möchte wie bei meiner Abreise. Fabio wird noch ein paar Tage bei meiner Mutter bleiben. Ich freue mich auf beide. Leider sehe ich meinen Mann noch ein paar Wochen lang nicht, so dass ich ihm nicht direkt von meinen Eindrücken erzählen kann.
Und beruflich? Indem ich meinen Kopf stark auf das Italienischlernen konzentrieren musste, konnte ich darüber alles andere vergessen, was mich vorher beruflich beschäftigt hat. Das ist gut so. Nun muss ich mich wieder darauf einstellen. Schon morgen Abend werde ich die Osternacht feiern, zum Glück habe ich sie schon vorbereitet. Der Alltag wird mich wiederhaben, und ich hoffe, ich werde mir etwas Zeit und Ruhe gönnen können, um langsam wieder darin einzutauchen – und die Eindrücke dieser Reise zu einem wertvollen Teil davon zu machen.

Jetzt nur noch durch zwei lange Tunnels, dann bin ich schon fast zuhause.

Diario Bolognese – 12. Tag

Abschied

Ein letztes Mal Schule. Ich werde feierlich mit einer Urkunde verabschiedet. Auch wenn ich keine sehr engen Beziehungen zu den Anderen geknüpft habe, ist es doch ein komisches Gefühl, zu wissen, dass ich diese Menschen wohl niemals wiedersehen werde. Jede/r geht in sein/ihr eigenes Leben zurück, nach Australien, England, Russland oder Amerika; einige machen noch ein bis Wochen weiter, manche bleiben bis Semesterende an der Uni, die Thailänderin bleibt wohl für immer und wird noch einige Wochen lang die Schule besuchen.
Man verabschiedet sich herzlich mit Küsschen. Ein Amerikaner gibt mir noch einen Gruss an Roger Federer mit.

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Der Eingang zur Sprachschule

Zurück in der Wohnung ist der Abschied von Anna besonders herzlich, sie umarmt mich zweimal und hat Tränen in den Augen. Sie sagt, es gehe eben jedesmal ein Stück Leben verloren. So ist es.
Bevor ich später alleine das Haus verlasse, stelle ich ihr zu einer Dankeskarte noch einen Lindt-Goldhasen hin, „Cioccolata Svizzera“, den ich – natürlich – in Bologna gekauft habe.

Nun habe ich noch 2 Stunden Zeit, bis ich zum Bahnhof muss. Ich flaniere noch einmal durch die Strassen mit den typischen Arkadenbögen. Im Mittelalter war es offenbar Pflicht, beim Hausbau solche Arkaden einzubauen. Nachdem ich hier hin und wieder einen sintflutartigen Platzregen miterlebt habe, kann ich das gut nachvollziehen.

Ich atme noch ein letztes Mal Bologna. Dass Karfreitag ist, merke ich einzig daran, dass der Touristenstrom merklich zugenommen hat, man hört sogar manchmal jemand Deutsch sprechen. Ansonsten ist dies hier ein ganz normaler Arbeitstag.

Die Stadt ist mir inzwischen sehr vertraut geworden. Mir ist in diesen zwei Wochen bewusst geworden, wie wichtig der Faktor Zeit bei so einem Aufenthalt ist. Eine Woche wäre ganz klar zu kurz gewesen. Ich habe ein paar Tage gebraucht, bis ich einen richtigen Rhythmus gefunden und herausgefunden habe, wie diese Stadt tickt – und erst recht, um in die Sprache zu finden. Bei einem anderen Mal würde ich weniger knapp anreisen, um mich bereits etwas einzuleben, bevor die Schule anfängt. Und wenn ich das nächste Mal nach Bologna komme, kann ich mich bereits zurechtfinden.

Ich gehe noch kurz in die Wohnung zurück, um meinen Koffer zu holen, dann begebe ich mich zum Bahnhof.

Diario Bolognese – 11. Tag

Das Leiden in der Welt

Es ist mein letzter ganzer Tag in Bologna, morgen Nachmittag sitze ich bereits im Zug nach Hause. Zeit, um noch letzte Besichtigungen zu machen.

Ich besuche die Kirche Santa Maria della Vita. In ihr findet sich eine ausserordentlich interessante Gruppe von Terrakottafiguren: Eine Pietà, eine Beweinung Christi aus dem Jahr 1463.

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Aber anstatt der stillen Trauer, die sonst bei diesem Motiv zu sehen ist, drücken die Gesichter Klage und blankes Entsetzen aus. Maria Magdalena und die andere Maria werden ihrer Rolle als Klageweiber voll und ganz gerecht. Die Männer, offenbar Josef von Arimathäa und Nikodemus, blicken nur stumm und nachdenklich.

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Morgen ist Karfreitag. Der Tag, an dem man des Leidens Christi gedenkt, und, wie ich finde, auch des Leidens in der Welt gedenken sollte, vor allem der Opfer von Unrecht und Gewalt. Angesichts dessen, was alles an Schrecklichem in der Welt passiert – Kriege, Menschenrechtsverletzungen, die vielen Ertrinkenden im Mittelmeer und vieles mehr  – wäre entsetztes Aufschreien eigentlich häufiger angebracht anstatt des üblichen Schulterzuckens oder Wegschauens.

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Langsam verabschiede ich mich innerlich von Bologna. Weil ich am Abend noch etwas vorhabe, beginne ich bereits am Nachmittag zu packen. Dann spaziere ich noch etwas durch die Stadt und setze mich noch einmal auf die Piazza Maggiore. Wenn man sich bereits innerlich auf die Heimfahrt einstellt, ist man eigentlich nicht mehr so richtig da. Auf gepackten Koffern zu sitzen ist immer ein komisches Gefühl. Aber morgen habe ich nochmal Schule, so ganz lösen kann ich mich noch nicht. Und heute Abend steht noch ein besonderes Abenteuer an.

Ich gehe an ein Konzert des Cantautore Roberto Vecchioni. Ich kannte ihn vorher noch nicht, aber ich habe den Namen von einer Facebook-Freundin gehört, die so begeistert von ihm ist, dass sie kürzlich nur für ein Konzert von ihm aus Deutschland nach Bergamo gereist ist. Nun singt er in Bologna, und bei der Gelegenheit möchte ich ihn mir auch mal anhören.
Vecchioni ist in Italien ziemlich bekannt. Meine Vermieterin Anna sagt, er sei der Intelligenteste unter den italienischen Sängern, man nennt ihn auch „il Professore“, weil er früher mal Altphilologe war. Genau das Richtige für mich.

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Im Zusammenhang mit dem Konzert kann ich auch noch etwas Interessantes erfahren. Ich hatte mich immer wieder gefragt, was dieses Transparent von Amnesty International bedeuten soll, das an jedem Rathaus hängt, das ich auf dieser Reise gesehen habe:

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Nun weiss ich es. Giulio Regeni war ein italienischer Student, der in Ägypten über unabhängige Gewerkschaften forschte und Kontakt zu Oppositionellen hatte. Für die linke Zeitung „Il Manifesto“ schrieb er unter Pseudonym kritische Artikel über den ägyptischen Staatsschef al-Sisi. 2016 wurde er tot in einem Strassengraben bei Kairo gefunden, die Autopsie ergab, dass er zu Tode gefoltert wurde, offenbar von ägyptischen Sicherheitskräften. Ägypten bestreitet dies. Giulio Regeni wurde nur 28 Jahre alt. Seither sind die diplomatischen Beziehungen zwischen Italien und Ägypten angespannt.

Roberto Vecchioni singt über Giulio Regeni ein Lied, das klingt wie ein Schlaflied. Es beschreibt die Gefühle der Mutter, die die Nachricht vom Tode ihres Kindes nicht glauben will. “Ihr vertut euch, es muss sich um jemand anderen handeln, Giulio ist doch hier und schläft nebenan”. Am Ende des Liedes wischt sich der Sänger die Tränen aus den Augen. Ein berührender Moment.

Auch dieses Konzert ist für mich ein nachhaltiges kulturelles Erlebnis und gleichzeitig der krönende Abschluss meines Bologna-Aufenthaltes. Nebenbei habe ich einen weiteren Cantautore kennengelernt.

Diario Bolognese – 8. Tag

Ins Zentrum

Die Seele geht zu Fuss, sagt man. Nach dem Wochenende habe ich das Gefühl, nun wirklich in Italien angekommen zu sein. Auch in die Sprache komme ich jetzt allmählich rein, und sogar das System der Buslinien in Bologna habe ich so langsam begriffen.

Die zweite Schulwoche hat begonnen. Die Gruppe ist kleiner geworden, zu fünft quetschen wir uns in einen kleinen Raum. Jetzt sitze ich auch nicht mehr zwischen zwei Russinnen, dafür unterhalte ich mich mehr mit der Thailänderin – gezwungenermassen auf Italienisch.
Wenn ich erzähle, dass ich aus der Schweiz komme, werde ich als Erstes gefragt, welche Sprache ich spreche. Das ist im Fall der vielsprachigen Schweiz ja eine berechtigte Frage. Dass es auch noch Rätoromanisch gibt, wissen nicht alle. Es gelingt mir auch nicht, ihnen auf Italienisch zu erklären, dass es sich nicht um Rumänisch handelt. Dafür ist das Erstaunen gross, als ich einigen meine Identitätskarte zeige, auf der alles in fünf Sprachen angeschrieben ist (ursprünglich waren nur vier Sprachen geplant gewesen, nach energischen Protesten aus Graubünden hatte man dann noch Romanisch dazu genommen).

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Am Nachmittag mache ich erst einmal eine ausgiebige Siesta – meiner Erkältung geschuldet – und gehe dann in die Stadt, um noch einiges zu besichtigen.

Wahrzeichen von Bologna sind die hohen Geschlechtertürme. Im Mittelalter sollen es über 100 davon gegeben haben. Der Torre degli Asinelli aus dem 12. Jahrhundert ist fast 100 Meter hoch, er wirkt so dünn, dass es erstaunlich ist, dass er noch nicht eingestürzt ist. Der Torre Garisenda daneben, nur 48 Meter hoch, ist hingegen mehr als schief. Seine Neigung beträgt zur Zeit 3,22 Meter. Momentan finden daran Bauarbeiten statt, wohl um sein Umfallen zu verhindern.
Früher hatten die Türme militärische Funktionen, sie wurden dann aber mehr und mehr zu Statussymbolen reicher Geschlechter. Das kennen wir doch irgendwoher.

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Dann begebe ich mich zur Kirche San Domenico, welche die Reliquien des Ordensgründers der Dominikaner beherbergt.

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Sie ist von aussen besonders gross und prächtig, aber in seiner barocken Ausstattung nicht ganz mein Fall. Doch meine Vermieterin Anna hatte mir verraten, dass in ihrem Inneren drei Skulpturen von Michelangelo stehen. Der kleine Engel hat es mir besonders angetan.

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Hinter der Kirche befindet sich ein Kreuzgang mit viel Grün. Andächtig gehe ich mehrmals den Weg ins Zentrum. Gleichzeitig zeigt sich zum ersten Mal seit Tagen wieder die Sonne. Ich geniesse den Moment der Ruhe inmitten der hektischen Stadt.

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Diario Bolognese – 7. Tag/2

 

L’ultimo volo – Flug Itavia 870

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Am Abend des 27. Juni 1980 stürzte ein Passagierflugzeug auf dem Weg von Bologna nach Palermo nördlich der italienischen Insel Ustica ins Tyrrhenische Meer. Alle 81 Insassen starben bei diesem Unglück, das in Italien als „Strage di Ustica“ bekannt wurde.
Zunächst wurde die Explosion einer Bombe an Bord vermutet, später wurde klar, dass das Flugzeug abgeschossen wurde.
Auch dieses Ereignis ist bis heute mysteriös geblieben. Auch hier kam es nachweislich zu Falschaussagen und der Zurückhaltung von Informationen durch staatliche Stellen.
Auf Wikipedia findet sich eine erschreckend lange Liste mit Namen von Angehörigen der italienischen Luftwaffe, die in den Folgejahren auf rätselhafte Weise ums Leben gekommen sind, bevor sie zu dem Ereignis hätten Aussagen machen können. Darunter befinden sich auch die zwei italienischen Militärpiloten, die das verheerende Unglück an der Flugschau im deutschen Ramstein durch ihren Absturz ausgelöst haben. Sie hätten nur eine Woche später vor dem Untersuchungsausschuss aussagen sollen. Es besteht der Verdacht eines Sabotageaktes.
Heute vermutet man, dass die Maschine über Ustica in einen Angriff auf die Regierungsmaschine des damaligen libyschen Staatschefs Muammar al-Ghaddafi geraten war. Ghaddafi war offenbar vorher gewarnt und sein Flugzeug umgeleitet worden. Die Rakete aus einem französischen oder amerikanischen Kampfjet traf versehentlich die Passagiermaschine.

Dieses Ereignis beschäftigt mich, weil Pippo Pollina darüber ein Werk geschrieben hat, in dem diese Geschichte aus der Sicht des Flugzeuges erzählt wird. Ich besitze die CD mit dem Titel „L’ultimo volo“ und finde es etwas vom Besten, das Pippo Pollina je komponiert hat. 2020 soll es zum 40. Jahrestag des Unglückes wieder Aufführungen davon geben.

Nach der Freigabe des Flugzeugwracks und dem Transport nach Bologna wurde der französische Künstler Christian Boltanski mit einer Kunstinstallation beauftragt, die im „Museo per la Memoria di Ustica“ ausgestellt ist.

Die Besichtigung ist für mich sehr eindrücklich. In einer Halle wird das Flugzeug in seinen zusammengesetzten Trümmerteilen ausgestellt. An der Decke hängen 81 Glühlampen, für jede verstorbene Person eine, die in pulsierendem Rhythmus alle paar Sekunden langsam an- und ausgehen. An den Wänden hängen 81 schwarze Spiegel. Hinter jedem Spiegel befindet sich ein Lautsprecher, aus dem im Flüsterton Stimmen zu hören sind. Ein leises Stimmengewirr von 81 Menschen, nachgesprochen von Personen gleichen Alters und Geschlechtes wie die Opfer, erfüllt den Raum. Neben dem Flugzeug stehen neun schwarze Boxen, in ihrer Form an Särge erinnernd, in denen die gefundenen Gepäckutensilien aufbewahrt werden, respektvoll geschützt vor voyeuristischen Blicken.

Ich umrunde mehrmals die Installation und bin tief bewegt. Hier wurde in eindrücklicher Weise versucht, dem Andenken an den gewaltsamen Tod unschuldiger Menschen auf berührende Art Ausdruck zu verleihen. Wir können nur erahnen, welche Schicksale hinter diesem Ereignis stehen. Und als Lebende können wir nur in respektvoller Art und Weise versuchen, die Bedeutung und Tragweite für die Einzelnen annähernd nachzuvollziehen. Ich denke, rationale Worte allein werden dabei immer unzureichend bleiben. Die Kunst vermag auf andere Art, Erinnerungen, Betroffenheit und Gefühle auszudrücken, die versuchen, dem Geschehenen ansatzweise gerecht zu werden.

Da Foto- und Filmaufnahmen der Kunstinstallation nur für private Zwecke verwendet werden dürfen, gibt es hier nur ein Bild eines schwarzen Spiegels:

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„Canzone Sesta“, das Schlusslied des Werkes „L’ultimo volo“: https://www.youtube.com/watch?v=WxtzdkJzF7M

Link zu Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Itavia-Flug_870

Diario Bolognese – 7. Tag/1

Ferrara

Die zweite Destination meiner Wochenend-Planung ist Ferrara.
Mehrere Leute hatten mir vor den Ferien den Tipp gegeben, ich solle unbedingt einen Ausflug nach Ferrara machen, das sei ein besonders schönes Städtchen.
So steige ich also wieder in den Zug, es ist nur eine halbe Stunde Zugfahrt dorthin.
Doch dort angekommen erlebe ich eine Enttäuschung. Nach dem 20-minütigen Fussweg vom Bahnhof in die Altstadt muss ich feststellen: Duomo chiuso. Wegen Renovierung ist der prächtige Dom für mehrere Wochen geschlossen. Sogar die angeblich reich geschmückte Fassade ist zugehängt.

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Zudem ist es saukalt. Ferrara scheint schön zu sein, wenn man draussen herumflanieren und vor den zahlreichen Bars an den Strassen und Piazzen gemütlich sitzen kann, mit Strassenkünstlern an jeder Ecke. Aber an diesem ungemütlichen Tag bleibt mir als Einziges, schnell eine Bar zu suchen, in der man halbwegs gemütlich im Warmen sitzen kann. Als ich endlich eine gefunden habe, bestelle ich mir einen warmen Tee und auf meinen Frust hin noch ein „Dolce“ dazu.

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Später besichtige ich die Burg Castello Estense, die mich aber nicht sonderlich beeindruckt. Das jüdische Museum ist ebenfalls wegen Renovierung geschlossen. So bleibt nicht mehr viel, das mich interessieren würde. Auch das Kathedralen-Museum beherbergt nicht viel Spannendes. Das Einzige, das mir ins Auge sticht, ist ein Relief, das Eva als gestresste Hausfrau und Mutter zeigt: Kain und Abel belagern ihren Schoss, während dem sie am Spinnen ist.

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So bin ich bereits am Nachmittag wieder in Bologna zurück und habe noch Zeit, in ein ganz besonderes Museum zu gehen.

Diario Bolognese – 5. Tag

Caro amico ti scrivo…

Die erste Woche ist um. Einige der SchülerInnen werden verabschiedet.
Ich bin froh, dass ich zwei Wochen gebucht habe. In nur einer Woche hätte ich fast nichts lernen können. Jetzt habe ich mich gerade erst akklimatisiert und beginne, in die Sprache hineinzufinden. Bislang ist mir das Sprechen eher schwergefallen.

Am Nachmittag gehe ich nochmal in die Altstadt und besichtige das antike Universitätsgebäude. Das Archiginnasio hat einen wunderschönen antiken Anatomiesaal. Die Wände sind mit Holz verkleidet, Statuen von Ärzten aus der Antike zieren den Saal. Am Katheter befinden sich zwei Holzskulpturen, an welchen die Erkenntnisse der anatomischen Studien sichtbar sind.2019-04-12 17.04.34

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In der Sela Stabat Mater sind lange Bücherregale mit alten Büchern der einzelnen Fakultäten zu finden. Die Wände sind mit den Familienwappen zahlreicher Professoren und Studenten aus der Geschichte der Universität verziert.
Diese uralte Universität, an der unter anderem Dante, Petrarca, Kopernicus sowie die erste Professorin Laura Bassi lehrten, ringt mir Respekt ab. Auch ich habe studiert und von den Forschungen und Erkenntnissen früherer Generationen profitiert. Und ich gehöre zu einer der ersten Generationen, in denen mir als Frau der Zugang zu diesem Wissen problemlos möglich war. Ich habe sehr gerne studiert. Noch heute ist es ein wichtiger Teil meines Lebens, mir immer wieder neues Wissen anzueignen, zu lesen und zu lernen.

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Wieder auf der Strasse, bewege ich mich in Richtung der Via D’Azeglio, für mich ist sie einfach die Lucio-Dalla-Gasse. Hier wurde der Text eines Liedes des 2012 verstorbenen Cantautore als Weihnachtsbeleuchtung aufgehängt und glücklicherweise bis jetzt hängen gelassen. Ich höre mir das Lied an, das ich natürlich nicht zufällig auf mein Handy geladen habe und wandere dazu durch die Gasse. Auch das Lucio-Dalla-Haus befindet sich hier. Leider ist die Besichtigung des Hauses über Monate im Voraus ausgebucht.

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Ich finde es schön, dass Bologna seinem berühmtesten Cantautore solche Ehre macht.

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Diario Bolognese – 4. Tag

Uniquartier

Der Sprachkurs ist anstrengend, aber auch interessant.
Ich sitze zwischen den zwei Russinnen, die sich zwischendurch auf Russisch unterhalten. Dem Lehrer gefällt das nicht, aber ich sage nur, wie schön, dann lerne ich gleich auch noch Russisch dazu. Mir bleibt meistens nichts anderes übrig, als mit den Leuten Italienisch zu reden.

Am Nachmittag erkunde ich noch einmal genauer die Altstadt.
Ich spaziere durch das Uniquartier. Die Universität Bologna, gegründet im Jahr 1088, ist die älteste Universität Europas. Heute findet man dort noch so richtige Uni-Atmosphäre, so wie bei uns in den 70er und 80er Jahren, mit antifaschistischen Sprüchen an den Wänden und teilwiese sehr kunstvollen Graffities.

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Auf einer Piazza hocken die Studierenden einfach auf dem Boden. Ich werde fast nostalgisch.

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Hier sehe ich auch zum ersten Mal einen Fahrradweg.

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Auf dem Rückweg verlaufe ich mich heillos in den verwinkelten Gassen. In einer trostlosen Bar trinke ich zwischendurch einen Tee und fühle mich tatsächlich etwas verloren. Ich frage mich, ob es wirklich so eine gute Idee war, alleine zu verreisen. Doch danach finde ich die Orientierung wieder und es macht mir wieder Spass, durch Bologna zu laufen.

Gegen Abend flüchte ich mich vor einem Regenschauer in eine kleine Bar, in der wunderschöne Musik von Ennio Morricone läuft. Ich esse ein Sandwich und bin mit mir, der Welt und Italien wieder versöhnt.