Diario Bolognese – 10. Tag

Modena – Kultur für die Seele

Der Alltag in der Schule ist für mich inzwischen Routine geworden. Ich getraue mich auch immer mehr zu sprechen.

Da Ferrara so ein Flop war, unternehme ich heute Nachmittag noch einen Ausflug nach Modena. Bereits auf dem Weg in die Altstadt werde ich von einem alten Bekannten begrüsst:

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Hier werde ich voll und ganz entschädigt: Die Stadt gefällt mir, und die wunderschöne Kathedrale fasziniert mich mit ihren vielen Details aussen und innen. (In der Kathedrale herrscht leider Fotografierverbot)

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Besonders die Bildhauerarbeiten des Wiligelmo aus dem 12. Jahrhundert sprechen mich an. Neben Reliefs, welche die Geschichte von Adam und Eva erzählen, schuf Wiligelmo auch Fabelwesen und einen Jahreszeitenzyklus. Gerade das Alter der Kunstwerke macht sie so ausdrucksstark.

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Die Erschaffung Adams und Evas
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Die Vertreibung aus dem Paradies
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Kain und Abel

Meine Gedanken kreisen heute auch um eine andere Kathedrale: Vor zwei Tagen ist Notre Dame halb abgebrannt.
Bereits haben Diskussionen begonnen, ob man wirklich so viel Geld für „ein paar Steine“ ausgeben soll, ob man Notre Dame überhaupt wieder aufbauen soll, davon profitiere ja nur die katholische Kirche etcetera.
Aber ich denke: Es geht hier gar nicht unbedingt um Religion. Es geht um Kultur. Ein altes, einzigartiges Kulturgut ist beschädigt worden. Es sollte wiederhergestellt und so für die Welt erhalten bleiben. Kultur hat ihren eigenen besonderen Wert, und auch kirchliche Kunst kann selbst nichtreligiöse Menschen ansprechen.

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2019-04-17 16.41.00 (2)Macht Kultur die Menschen besser? Nicht unbedingt. Kultur kann auch zu ideologischen Zwecken missbraucht werden.
Doch Kultur als eine kreative Auseinandersetzung mit den grossen Fragen des Menschseins entspricht einem tiefen Bedürfnis der Menschen. Das Streben nach dem Wahren, Schönen und Guten, der Ausdruck von Gedanken und Gefühlen mithilfe von Geschichten, Bildern, Musik und Darstellung ist im Menschen veranlagt und sollte gerade in dieser Zeit der Technisierung und des Werteverlustes wieder einen besonderen Stellenwert bekommen. Kunst und Kultur vermitteln Botschaften, die mit blossen Worten nicht ausgedrückt werden können. Sie treffen direkt in die Seele.


Gerade mit alter sakraler Kunst bekommen wir einen Zugang zum Denken, Glauben und Fühlen längst vergangener Generationen, zur Mystik einer früheren Epoche, die eine besondere Tiefe hat. Mich beeindruckt es, zu spüren, dass diese alten Kunstwerke über die Jahrhunderte hinweg mich tief im Innersten berühren und bei mir nachhaltige Eindrücke hinterlassen, die ich nicht in Worte zu fassen vermag.
Eine solche Kirche zu betreten, ihre Architektur und ihre Kunst auf mich wirken zu lassen, bedeutet für mich das Erleben einer intensiven Spiritualität, die noch lange nachwirkt.

Am Beispiel von Notre Dame sehen wir auch: Nichts ist für die Ewigkeit gemacht.

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Diario Bolognese – 6. Tag

Ravenna

Heute, am Samstag, habe ich Zeit für einen Tagesausflug nach Ravenna. Ich wusste vorher nicht viel von dieser Stadt, ausser, dass sie bei anspruchsvollen Kunstreisen auf dem Programm steht. Ziemlich unvoreingenommen trete ich also die Reise an, am Abend vorher habe ich mir noch schnell die wichtigsten Fakten aus dem Reiseführer angelesen und mich entschieden, welche Orte ich besuchen möchte; ich konzentriere mich vor allem auf die UNESCO-Weltkulturerbe-Stätten, von denen es dort gleich mehrere gibt.
Die Hafenstadt wurde im 5. Jahrhundert unter Kaiser Theoderich Hauptstadt Westroms. Aus dieser Zeit stammen die meisten noch gut erhaltenen Sakralbauten mit ihren wunderschönen byzantinisch beeinflussten Mosaiken. Die Kunstwerke sehen aus wie neu, gehören aber zu den ältesten Darstellungen christlicher Kunst überhaupt.

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Ravenna selber ist keine besonders schöne Stadt, umso mehr bin ich tief beeindruckt von den prächtigen Mosaiken, die ich im Innern der Kirchen zu sehen bekomme. Ich habe ja schon viel kirchliche Kunst gesehen, aber das hier ist wirklich etwas ganz Besonderes.

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Die Abrahamsgeschichte

Interessant finde ich vor allem, dass hier verschiedene frühchristliche Linien aufeinandertreffen. Das Christentum war ja zu Anfang keineswegs so einheitlich, wie es aus heutiger Sicht scheint. Verschiedene Theologien, Gottesbilder und Christusverständnisse existierten nebeneinander, zeitweise auch in friedlicher Koexistenz, wie das Beispiel Ravenna zeigt.
Am Hof Theoderichs herrschte das arianische Christentum. In dessen Lehre ist Jesus nicht wesensgleich mit Gott, sondern von Gott geschaffen und ihm unterstellt; er wird als Vermittler zwischen Gott und den Menschen gesehen, gilt also ausschliesslich als Mensch. Erst nachdem Kaiser Justinian in Ravenna die Macht übernommen hatte, wurde der katholische Glaube mit seiner Trinitätslehre verbindlich eingeführt.

In Ravenna sind noch heute Spuren des arianischen Glaubens sichtbar. Zum Beispiel die Darstellung der Taufe Jesu im Jordan im „Battisterio degli Ariani“ . Hier trägt Jesus wahrhaft menschliche Züge – am ganzen Körper.

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Ähnlich undogmatisch geht es auch auf einem Mosaik in der Kirche San Vitale zu und her: Die Kaiserin Theodora, die einst Tänzerin und Prostituierte gewesen sein soll, eröffnet eine Prozession mit dem Kelch, der für das Messopfer bestimmt ist. Frauenpriestertum? Kein Problem!

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Ein besonders schönes Mosaik schmückt das Tonnengewölbe des Mausoleums der Regentin Galla Placidia.

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Weil ich erkältet bin, kaufe ich mir ein Halstuch mit diesem Muster. Erst später fällt mir auf, dass es genau zu meinem Rucksack passt.

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Das Etikett „Made in China“ entferne ich ziemlich bald.

 

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Gesegnet in das neue Jahr

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Auch dieses Jahr verbrachte ich zum Jahreswechsel wieder drei Tage alleine in den Bündner Bergen. Ich brauche diesen Kurzurlaub, um mich von den anstrengenden Weihnachtstagen zu erholen, dem drohenden „Feiertagskoller“ zu entfliehen und zum Übergang der Zeiten einfach mal ganz für mich zu sein. Und nicht zuletzt um eine Gegend zu besuchen, die für mich so etwas wie eine „Herzensheimat“ ist.

Neben der Zugfahrt hin und zurück, die für mich ebenfalls schon Urlaub bedeutet, konnte ich in den zwei Tagen Aufenthalt vieles unternehmen: mich von der Rhätischen Bahn durch die Kehrtunnels schaukeln lassen, die „längste Schlittelbahn Europas“ herunterschlitteln, eine Zeitreise zum schwindenden Morteratschgletscher unternehmen, natürlich wellnessen und abends im Hotelzimmer Rück- und Vorschau auf das alte und das neue Jahr halten.

Den eindrücklichsten Moment erlebte ich jedoch bei einer meiner Wanderungen durch die Winterlandschaft der Albula-Region. Im Weiler Stuls, der nur aus wenigen Häusern besteht, gelangte ich zu einem kleinen Kirchlein, das ursprünglich ein Oratorium, also ein Gebetsraum für durchziehende Wanderer war. Von aussen sieht es zwar klein und unscheinbar aus, in seinem Inneren birgt es jedoch unermessliche Schätze: Die Seitenwände und die Decke sind rundum mit wunderschönen Fresken ausgemalt. Die Bilder aus dem 14. Jahrhundert haben eine starke Ausdruckskraft. Sie vermitteln uns etwas von der mittelalterlichen Spiritualität, zu deren Tiefe und Unmittelbarkeit wir in der heutigen Zeit kaum noch Zugang haben.

Die Darstellungen erzählen aus dem Leben Jesu; vor allem die Passionsgeschichte nimmt grossen Raum ein. Zu sehen ist Jesus, der beim Abendmahl dem Judas das Brot reicht (Jesu Zuwendung gilt dem Menschen, der sie in seiner Gebrochenheit am meisten nötig hat), der die Geisselung und den Gang zum Kreuz mit grosser Sanftmut erträgt und der schliesslich nach seinem Tod von seinen Getreuen mit inniger Zärtlichkeit vom Kreuz genommen und betrauert wird.

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Das Eindrücklichste ist jedoch das Deckengemälde. In der Rundung des Gewölbes thront Christus in der regenbogenfarbigen Mandorla, die Hand zum Segen erhoben.

Obwohl ich die biblischen Geschichten bereits zur Genüge durchexegetisiert und schon zahlreiche Darstellungen davon gesehen habe, berühren mich die Bilder in der Kirche Stuls zutiefst. In diesem kleinen Raum, der mit seinem Tonnengewölbe eine tiefe Geborgenheit vermittelt, erlebte ich einen spirituellen Moment. Die Bilder brachten etwas tief in meinem Innersten in Schwingung, das ich mit Worten nicht beschreiben kann. So blieb ich ein paar Minuten und liess den Geist dieses Raumes auf mich wirken.

Bevor ich mich schliesslich zum Gehen wandte, stellte ich mich ganz bewusst unter das Deckenbild mit dem segnenden Christus. Da bekam ich das Gefühl, dass der göttliche Segen mich zu umhüllen und durchdringen schien. Die Inschrift in der Chorwand erinnerte mich daran, dass die göttliche Kraft allzeit bei mir sein würde.

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So verliess ich die Kirche, konnte meinen Weg fortsetzen und gesegnet in das neue Jahr gehen.

Literatur und Bilder: https://desertina.ch/shop/index.php/produkt/heilende-bilder/