Wie durch einen Spiegel

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In Zürich wird der Zug voll. Ich beschliesse, mir ein 1.-Klasse-Billett zu leisten und wechsle den Waggon. Hier, in einem bequemen Sessel, mit meiner Lieblingsmusik in den Ohren, kann ich in Ruhe die Landschaft an mir vorbeiziehen lassen und meinen Gedanken nachhängen.

Es ist der 8. August 2012. Ich bin auf dem Heimweg von einer Beerdigung. Ausnahmsweise einmal eine, die ich nicht selber gehalten habe. Ich war dabei als „Trauergast“ oder wie man das nennt. Ein Kollege aus meiner Coaching-Ausbildung wurde beerdigt. Zu Anfang des letzten Ausbildungsjahres hatte er uns überraschend mitgeteilt, dass er eine vernichtende Krebsdiagnose erhalten habe und daher die Ausbildung abbrechen müsse. Er kam dann noch in unser nächstes Seminar, um sich zu verabschieden. Mit viel Galgenhumor erzählte er uns von seiner Situation, es wurde viel gelacht. Doch in seinen Augen konnte ich die Angst sehen. Nur wenige Monate später kam dann die Todesanzeige.

Zwei Jahre lang war ich mit ihm zusammen in einer Arbeitsgruppe gewesen. Wir waren gemeinsam auf dem Weg durch unsere Ausbildung, haben viel zusammen gearbeitet, diskutiert, gelacht, uns einander unterstützt, nach Erkenntnissen gesucht, manchmal auch miteinander gerungen. Jetzt ist er tot.

Die Pfarrerin hatte ein gutes Gespür, obwohl sie den Verstorbenen nicht gekannt hat. Sie hat für ihre Ansprache intuitiv den Bibeltext ausgewählt, den ich an ihrer Stelle auch für meinen Kollegen ausgesucht hätte:

Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.

Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. (1. Korinther 13, 8 – 13)

Ja, so ist es, alles Erkennen ist unvollkommen. Wir sehen wie durch einen Spiegel. Man muss dabei wissen, dass in damaliger Zeit die Spiegel nicht so klare Bilder zurückwarfen wie heute. Vielleicht ist auch der Wasserspiegel damit gemeint.

Der Zug rollt weiter durch die hochsommerliche Landschaft. Ich frage mich, was mein Kollege, sofern er wirklich etwas sehen kann, jetzt wohl sieht, „von Angesicht zu Angesicht“. Ich würde es ihm jedenfalls gönnen. Er war irgendwie auf der Suche, so wie ich auch.

„La vita è bella cosi com’è“, tönt eines meiner Lieblingslieder in meinen Ohren. Ja, das Leben ist schön, und es ist zerbrechlich. Der Tod meines Kollegen hat in mir wieder altbekannte Ängste wachgerufen: Wann trifft mich das gleiche Schicksal? Man sollte das Leben geniessen, gerade weil es jederzeit zu Ende sein kann. Aber darf ich das angesichts des Schicksals meines Kollegen? Kann ich es mir einfach so gut gehen lassen, den Sommer geniessen, meine Ausbildung beenden – und er musste sterben? Ich komme mir vor wie die einzige Überlebende eines Unglückes. Ich habe irgendwie ein schlechtes Gewissen, weil ich noch leben darf und er nicht. Und ich habe Angst, weil ich wieder gesehen habe, wie fragil das Leben ist, und dass es jeden jederzeit treffen kann.

Die inzwischen abendliche Sonne taucht die Landschaft in ein warmes Licht. Und da ist mir, als hörte ich die Stimme meines Kollegen, der zu mir sagt: „Mache dir keine Sorgen um mich, mir geht es jetzt gut. Aber leb‘ DU jetzt mal dein Leben!“

Ja, er hat Recht, ich sollte mein Leben leben, gerade jetzt! Ganz intensiv, aus dem Vollen schöpfend, in Wertschätzung für das Schöne und Gute, das es mir bietet. Das Leben beim Schopf packen, anstatt mich von Ängsten bremsen zu lassen. Mich einbringen in die Welt, so wie es mir entspricht. Nicht müde werden, nach der Wahrheit zu suchen, auch wenn wir Lebenden sie nur erkennen können wie durch einen trüben Spiegel.

Ich glaube sogar, dass wir das den Verstorbenen irgendwie schuldig sind, vielleicht gerade weil sie es selber nicht mehr können. Dass wir sozusagen stellvertretend für sie leben sollen und nicht darin nachlassen, das Gute und Schöne in die Welt zu bringen. Nicht aus schlechtem Gewissen, sondern aus Dankbarkeit dafür, dass wir am Leben sind.

Schon morgen früh werde ich in den Feldern hinter meinem Haus joggen gehen und den Duft des Sommers einatmen, obwohl ich eigentlich keine Zeit dazu habe. Schon morgen werde ich beginnen, den Kontakt zu vertiefen zu Menschen, die mir wertvoll sind.

Dieser Tag ist nun vier Jahre her. Heute weiss ich: Diese Zugfahrt hat etwas in meinem Leben verändert. Nicht das Leben selber. Aber meine Haltung zum Leben.

Danke, Chrigel!

Grosse Momente

Kürzlich war ich zum ersten Mal in meinem Leben an einem Konzert im Zürcher Hallenstadion.

Eigentlich hatte ich gedacht, die Zeit wäre schon lange vorbei, in der ich als „Fan“ zu einem musikalischen Grossanlass pilgern würde. Aber dieses einmalige Ereignis wollte ich mir nun doch nicht entgehen lassen: Mein Lieblingsmusiker Pippo Pollina gibt in diesem riesigen Stadion ein Konzert!

Die Einzigartigkeit dieses Anlasses wird einem erst bewusst, wenn man sich den Werdegang dieses Musikers vor Augen hält: Vor 30 Jahren reiste der gebürtige Sizilianer als Strassenmusiker durch Europa, blieb schliesslich in der Schweiz hängen, wurde vom Liedermacher Linard Bardill und schliesslich von Konstantin Wecker entdeckt und auf Tourneen mitgenommen.

Doch der Beginn seiner Solokarriere war zunächst harzig, er musste hart um Auftrittsmöglichkeiten kämpfen. Seine Musik – obwohl eingängig und melodisch – entspricht nun mal nicht dem üblichen Mainstream-Radioprogramm- und Hitparaden-Geschmack (womit auch etwas über das hohe Niveau seiner Musik gesagt ist).

Doch seit etwa 20 Jahren läuft es für ihn gut, er hat diverse CDs produziert und auf vielen Tourneen inzwischen Hunderte von Konzerten gegeben, vor allem im deutschsprachigen Raum und in Italien.

Doch Pippo Pollina ist auch heute nicht das, was man gemeinhin unter einem „Star“ versteht, sein Name ist immer noch Geheimtipp für viele, die von Musik mehr erwarten als das, was täglich im Radio zu hören ist. Seine Konzerte gab er dementsprechend bis anhin vor allem in Kleintheatern, in Kulturzentren und auf Liedermacher-Festivals, also im kleinen, intimen Rahmen, mit persönlichem Kontakt zu seinem Publikum. Ich habe Pippo Pollina schon in einer Gartenbeiz erlebt, im Sulèr eines Engadinerhauses, auf einer Seebühne auf dem Silsersee und in diversen Kleintheatern.

Und nun hat er den grossen Schritt ins Hallenstadion gewagt.

Sicher war das ein grosses Wagnis für ihn, denn es war keinesfalls klar, dass er dieses grosse Stadion würde füllen können. Nicht zuletzt, um ihn bei diesem Vorhaben zu unterstützen habe ich den Weg nach Zürich auf mich genommen. Aber nicht nur deswegen. Seine Lieder mit berührenden Melodien und poetischen, engagierten Texten begleiten mich schon seit Jahren durch die Freuden und Leiden meines Alltags und berühren mich oftmals tief in meinem Innersten. Und ich wusste: Das Live zu erleben, diese Ausstrahlung, diese Energie und Leidenschaft, die dieser Mensch auf der Bühne zum Ausdruck bringt, ist ein unbeschreibliches Erlebnis.

Und meine Erwartungen wurden nicht enttäuscht.

Mit einer hochkarätigen Band und zahlreichen Gästen erzählte uns Pollina aus seiner Lebensgeschichte und zeigte seine musikalische Vielfalt auf, die von jazzigen und rockigen Tönen, sanften Klängen am Klavier oder begleitet vom Cello bis zum Zusammenspiel mit einem Symphonieorchester reichte. Ich konnte deutlich erleben, wie dieser kleine, sympathische Mann die Menschen bis in die hintersten Reihen mit seiner Ausstrahlung berühren und mit seiner Leidenschaft anstecken konnte. Ich durfte eindrückliche, bewegende und magische Momente erleben. Entsprechend bewegt, beschwingt und berührt bin ich von diesem Konzert nach Hause gekommen.

Für mich war dieser Abend ein grosses Erlebnis, das ich niemals vergessen werde.

Für den Musiker selber war dieses Konzert zweifellos ein Höhepunkt seiner Karriere und überhaupt ein grosser Moment in seinem Leben. Diesen Erfolg und dieses Erlebnis mag ich ihm wirklich von ganzem Herzen gönnen und freue mich, dass ich das miterleben durfte.

Aber man muss nicht unbedingt im Hallenstadion auftreten, um einen grossen Moment erleben zu können. Grosse Momente hat wohl jeder Mensch dann und wann in seinem Leben.

Nach einer Ausbildung das Diplom überreicht bekommen, vor dem Standesamt hören, wie da jemand Ja zu mir sagt, nach der Geburt das Baby zum ersten Mal in den Armen halten, den Mietvertrag zur Traumwohnung unterschreiben, beim Engadiner Frauenlauf die Ziellinie überqueren (als Vorletzte, aber egal), die Zusage zu einer Stelle bekommen und einige andere Augenblicke, die ich hier nicht verraten möchte, gehören zu den grossen Momenten meines Lebens, die ich nie vergessen werde.

Und dann gibt es immer wieder im Leben auch noch die „kleinen grossen Momente“. Mit dem Fahrrad durch duftende Felder fahren. An einem Bach sitzen. Zu Beginn der Ferien zum ersten Mal das Meer sehen. Mit dem Zug am Walensee entlangfahren. Über den verschneiten Silsersee laufen. Kindern beim selbstvergessenen Spielen zuschauen. Sich mit anderen Menschen wortlos verstehen. Eine neue Erkenntnis bekommen. Morgens am Fenster tief durchatmen…

Es gäbe noch so vieles zu nennen. Die kleinen Glücksmomente, die doch eigentlich grosse Momente sind und von denen wir fast täglich etwas erleben können, wenn wir offen und empfänglich dafür sind. Es genügt oftmals einfach nur, innezuhalten und zu spüren. Das Schöne und Gute im Leben wirklich wahrzunehmen. Und Dankbarkeit dafür zu empfinden, wem oder was auch immer.

Auch wenn ich vielleicht nie mehr ein solches Konzert wie das im Hallenstadion erleben werde – grosse Momente wird es immer wieder geben. Und seien es eben auch nur die „kleinen grossen“ Momente.

Eine Kostprobe: Pippo Pollina im Amphitheater von Fiesole 2014. Dieses Lied sang er auch im Hallenstadion als letzte Zugabe.