Cervelat im Morgenrock

Dieser Text erschien als „Wort zum Sonntag“ im Thuner Tagblatt am 30.07.22

Meine Mutter, gebürtige Zürcherin, erzählte uns früher immer, dass in ihrer Kindheit die Schweiz die gleiche Nationalhymne hatte wie Grossbritannien, nur mit einem anderen Text. Und dass man manchmal aus Blödsinn sang: „Heil dir, Helvetia, Bratwurst und Cervelat.“ Im Raum Bern hiess es offenbar „hesch no ke Gaffe gha“.

Das zeugt ja nicht gerade von ehrbarem Patriotismus. Wenn ich mir aber den Text von „Rufst du, mein Vaterland“ so anschaue, in dem die Söhne, die Helvetia ja noch hat, freudvoll zum Streit schreiten und im frohen Todesstreich Wut wider Wut dem Schmerz spotten, dann habe ich Verständnis für die Verballhornung. Da ist mir die jetzige Hymne, die ohne jegliche Kriegsverherrlichung auskommt, doch um einiges lieber.

Aber ich muss gestehen, dass mein Verhältnis zur aktuellen Hymne zwiespältig ist.

Als ich sie kennenlernte, dauerte es einen Moment, bis ich begriff, dass mit dem Hocherhabenen, der im Morgenrock – Entschuldigung – im Morgenrot dahertritt nicht etwa das Vaterland gemeint ist, sondern niemand geringerer als Gott.

Gott ist es, der im Morgenrot, im Alpenglühn, im Nebelflor und im wilden Sturm daherkommt. Und nachdem die freien Schweizer zum Beten aufgefordert werden, ahnt am Ende jeder Strophe die fromme Seele Gott im hehren Vaterland.

Dieses Lied trägt den Titel Schweizerpsalm und ist eigentlich ein Kirchenlied. Es wurde im Jahr 1841 vom Zisterziensermönch Alberich Zwyssig komponiert und ist auch heute noch sowohl im reformierten als auch im katholischen Gesangbuch enthalten.

Der Text bringt eine wunderschöne Naturmystik zum Ausdruck. Gott kann in der Natur erfahren oder zumindest erahnt werden. Das ist eigentlich ein sehr schöner Gedanke. Wer hat noch nie das Gefühl gehabt, auf einem Berggipfel, im dichten Wald oder gar in einem tosenden Sturm etwas von Gottes Gegenwart spüren zu können? Insofern gefallen mir die romantischen Bilder des Schweizerpsalms. Doch was mich stört, ist das „Gott im hehren Vaterland“. Soll das bedeuten, dass Gott vor allem in der Schweiz erfahrbar ist? Hält er sich lediglich innerhalb unserer Grenzen auf? Ist Gott in anderen Ländern weniger präsent? Haben wir Gott für uns allein gepachtet?

Doch Gott findet sich nicht nur „im hehren Vaterland“, sondern überall auf der Welt. Gott kann auch im tropischen Regenwald erfahren werden, im Himalaya, in der Wüste Gobi oder auf dem tiefsten Meeresgrund. Gott findet sich in jedem Winkel dieser Welt, davon bin ich überzeugt. Und keine Nation innerhalb menschengemachter Grenzen kann Gott für sich allein beanspruchen. Die religiöse Überhöhung von Nationen, die Überzeugung, Gott auf der eigenen Seite zu haben, haben oft genug in der Geschichte schreckliches Leid ausgelöst.

Da gefallen mir die Varianten der Hymne in den anderen Landessprachen schon besser. Hier bleibt Gott schön brav im Himmel, wie z.B. in der französischen Fassung, in der Gott uns vom Himmel her segnet.

Sicher werde ich auch dieses Jahr an der Augustfeier den Schweizerpsalm mitsingen. Aber vielleicht werde ich am Ende lieber in Romanisch „Dieu in tschiel, il bap etern“ singen. Oder ich werde in der italienischen Version mit den bewährten Werten „libertà, concordia, amor“ die Helvetia ehren. Lassen wir Gott doch da, wo er/sie/es ist, wo immer das auch sei.

Hier kann der Text des Schweizerpsalms in den verschiedenen Landessprachen nachgelesen werden: https://de.wikipedia.org/wiki/Schweizerpsalm