Diario Bolognese – 7. Tag/2

 

L’ultimo volo – Flug Itavia 870

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Am Abend des 27. Juni 1980 stürzte ein Passagierflugzeug auf dem Weg von Bologna nach Palermo nördlich der italienischen Insel Ustica ins Tyrrhenische Meer. Alle 81 Insassen starben bei diesem Unglück, das in Italien als „Strage di Ustica“ bekannt wurde.
Zunächst wurde die Explosion einer Bombe an Bord vermutet, später wurde klar, dass das Flugzeug abgeschossen wurde.
Auch dieses Ereignis ist bis heute mysteriös geblieben. Auch hier kam es nachweislich zu Falschaussagen und der Zurückhaltung von Informationen durch staatliche Stellen.
Auf Wikipedia findet sich eine erschreckend lange Liste mit Namen von Angehörigen der italienischen Luftwaffe, die in den Folgejahren auf rätselhafte Weise ums Leben gekommen sind, bevor sie zu dem Ereignis hätten Aussagen machen können. Darunter befinden sich auch die zwei italienischen Militärpiloten, die das verheerende Unglück an der Flugschau im deutschen Ramstein durch ihren Absturz ausgelöst haben. Sie hätten nur eine Woche später vor dem Untersuchungsausschuss aussagen sollen. Es besteht der Verdacht eines Sabotageaktes.
Heute vermutet man, dass die Maschine über Ustica in einen Angriff auf die Regierungsmaschine des damaligen libyschen Staatschefs Muammar al-Ghaddafi geraten war. Ghaddafi war offenbar vorher gewarnt und sein Flugzeug umgeleitet worden. Die Rakete aus einem französischen oder amerikanischen Kampfjet traf versehentlich die Passagiermaschine.

Dieses Ereignis beschäftigt mich, weil Pippo Pollina darüber ein Werk geschrieben hat, in dem diese Geschichte aus der Sicht des Flugzeuges erzählt wird. Ich besitze die CD mit dem Titel „L’ultimo volo“ und finde es etwas vom Besten, das Pippo Pollina je komponiert hat. 2020 soll es zum 40. Jahrestag des Unglückes wieder Aufführungen davon geben.

Nach der Freigabe des Flugzeugwracks und dem Transport nach Bologna wurde der französische Künstler Christian Boltanski mit einer Kunstinstallation beauftragt, die im „Museo per la Memoria di Ustica“ ausgestellt ist.

Die Besichtigung ist für mich sehr eindrücklich. In einer Halle wird das Flugzeug in seinen zusammengesetzten Trümmerteilen ausgestellt. An der Decke hängen 81 Glühlampen, für jede verstorbene Person eine, die in pulsierendem Rhythmus alle paar Sekunden langsam an- und ausgehen. An den Wänden hängen 81 schwarze Spiegel. Hinter jedem Spiegel befindet sich ein Lautsprecher, aus dem im Flüsterton Stimmen zu hören sind. Ein leises Stimmengewirr von 81 Menschen, nachgesprochen von Personen gleichen Alters und Geschlechtes wie die Opfer, erfüllt den Raum. Neben dem Flugzeug stehen neun schwarze Boxen, in ihrer Form an Särge erinnernd, in denen die gefundenen Gepäckutensilien aufbewahrt werden, respektvoll geschützt vor voyeuristischen Blicken.

Ich umrunde mehrmals die Installation und bin tief bewegt. Hier wurde in eindrücklicher Weise versucht, dem Andenken an den gewaltsamen Tod unschuldiger Menschen auf berührende Art Ausdruck zu verleihen. Wir können nur erahnen, welche Schicksale hinter diesem Ereignis stehen. Und als Lebende können wir nur in respektvoller Art und Weise versuchen, die Bedeutung und Tragweite für die Einzelnen annähernd nachzuvollziehen. Ich denke, rationale Worte allein werden dabei immer unzureichend bleiben. Die Kunst vermag auf andere Art, Erinnerungen, Betroffenheit und Gefühle auszudrücken, die versuchen, dem Geschehenen ansatzweise gerecht zu werden.

Da Foto- und Filmaufnahmen der Kunstinstallation nur für private Zwecke verwendet werden dürfen, gibt es hier nur ein Bild eines schwarzen Spiegels:

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„Canzone Sesta“, das Schlusslied des Werkes „L’ultimo volo“: https://www.youtube.com/watch?v=WxtzdkJzF7M

Link zu Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Itavia-Flug_870

Grosse Momente

Kürzlich war ich zum ersten Mal in meinem Leben an einem Konzert im Zürcher Hallenstadion.

Eigentlich hatte ich gedacht, die Zeit wäre schon lange vorbei, in der ich als „Fan“ zu einem musikalischen Grossanlass pilgern würde. Aber dieses einmalige Ereignis wollte ich mir nun doch nicht entgehen lassen: Mein Lieblingsmusiker Pippo Pollina gibt in diesem riesigen Stadion ein Konzert!

Die Einzigartigkeit dieses Anlasses wird einem erst bewusst, wenn man sich den Werdegang dieses Musikers vor Augen hält: Vor 30 Jahren reiste der gebürtige Sizilianer als Strassenmusiker durch Europa, blieb schliesslich in der Schweiz hängen, wurde vom Liedermacher Linard Bardill und schliesslich von Konstantin Wecker entdeckt und auf Tourneen mitgenommen.

Doch der Beginn seiner Solokarriere war zunächst harzig, er musste hart um Auftrittsmöglichkeiten kämpfen. Seine Musik – obwohl eingängig und melodisch – entspricht nun mal nicht dem üblichen Mainstream-Radioprogramm- und Hitparaden-Geschmack (womit auch etwas über das hohe Niveau seiner Musik gesagt ist).

Doch seit etwa 20 Jahren läuft es für ihn gut, er hat diverse CDs produziert und auf vielen Tourneen inzwischen Hunderte von Konzerten gegeben, vor allem im deutschsprachigen Raum und in Italien.

Doch Pippo Pollina ist auch heute nicht das, was man gemeinhin unter einem „Star“ versteht, sein Name ist immer noch Geheimtipp für viele, die von Musik mehr erwarten als das, was täglich im Radio zu hören ist. Seine Konzerte gab er dementsprechend bis anhin vor allem in Kleintheatern, in Kulturzentren und auf Liedermacher-Festivals, also im kleinen, intimen Rahmen, mit persönlichem Kontakt zu seinem Publikum. Ich habe Pippo Pollina schon in einer Gartenbeiz erlebt, im Sulèr eines Engadinerhauses, auf einer Seebühne auf dem Silsersee und in diversen Kleintheatern.

Und nun hat er den grossen Schritt ins Hallenstadion gewagt.

Sicher war das ein grosses Wagnis für ihn, denn es war keinesfalls klar, dass er dieses grosse Stadion würde füllen können. Nicht zuletzt, um ihn bei diesem Vorhaben zu unterstützen habe ich den Weg nach Zürich auf mich genommen. Aber nicht nur deswegen. Seine Lieder mit berührenden Melodien und poetischen, engagierten Texten begleiten mich schon seit Jahren durch die Freuden und Leiden meines Alltags und berühren mich oftmals tief in meinem Innersten. Und ich wusste: Das Live zu erleben, diese Ausstrahlung, diese Energie und Leidenschaft, die dieser Mensch auf der Bühne zum Ausdruck bringt, ist ein unbeschreibliches Erlebnis.

Und meine Erwartungen wurden nicht enttäuscht.

Mit einer hochkarätigen Band und zahlreichen Gästen erzählte uns Pollina aus seiner Lebensgeschichte und zeigte seine musikalische Vielfalt auf, die von jazzigen und rockigen Tönen, sanften Klängen am Klavier oder begleitet vom Cello bis zum Zusammenspiel mit einem Symphonieorchester reichte. Ich konnte deutlich erleben, wie dieser kleine, sympathische Mann die Menschen bis in die hintersten Reihen mit seiner Ausstrahlung berühren und mit seiner Leidenschaft anstecken konnte. Ich durfte eindrückliche, bewegende und magische Momente erleben. Entsprechend bewegt, beschwingt und berührt bin ich von diesem Konzert nach Hause gekommen.

Für mich war dieser Abend ein grosses Erlebnis, das ich niemals vergessen werde.

Für den Musiker selber war dieses Konzert zweifellos ein Höhepunkt seiner Karriere und überhaupt ein grosser Moment in seinem Leben. Diesen Erfolg und dieses Erlebnis mag ich ihm wirklich von ganzem Herzen gönnen und freue mich, dass ich das miterleben durfte.

Aber man muss nicht unbedingt im Hallenstadion auftreten, um einen grossen Moment erleben zu können. Grosse Momente hat wohl jeder Mensch dann und wann in seinem Leben.

Nach einer Ausbildung das Diplom überreicht bekommen, vor dem Standesamt hören, wie da jemand Ja zu mir sagt, nach der Geburt das Baby zum ersten Mal in den Armen halten, den Mietvertrag zur Traumwohnung unterschreiben, beim Engadiner Frauenlauf die Ziellinie überqueren (als Vorletzte, aber egal), die Zusage zu einer Stelle bekommen und einige andere Augenblicke, die ich hier nicht verraten möchte, gehören zu den grossen Momenten meines Lebens, die ich nie vergessen werde.

Und dann gibt es immer wieder im Leben auch noch die „kleinen grossen Momente“. Mit dem Fahrrad durch duftende Felder fahren. An einem Bach sitzen. Zu Beginn der Ferien zum ersten Mal das Meer sehen. Mit dem Zug am Walensee entlangfahren. Über den verschneiten Silsersee laufen. Kindern beim selbstvergessenen Spielen zuschauen. Sich mit anderen Menschen wortlos verstehen. Eine neue Erkenntnis bekommen. Morgens am Fenster tief durchatmen…

Es gäbe noch so vieles zu nennen. Die kleinen Glücksmomente, die doch eigentlich grosse Momente sind und von denen wir fast täglich etwas erleben können, wenn wir offen und empfänglich dafür sind. Es genügt oftmals einfach nur, innezuhalten und zu spüren. Das Schöne und Gute im Leben wirklich wahrzunehmen. Und Dankbarkeit dafür zu empfinden, wem oder was auch immer.

Auch wenn ich vielleicht nie mehr ein solches Konzert wie das im Hallenstadion erleben werde – grosse Momente wird es immer wieder geben. Und seien es eben auch nur die „kleinen grossen“ Momente.

Eine Kostprobe: Pippo Pollina im Amphitheater von Fiesole 2014. Dieses Lied sang er auch im Hallenstadion als letzte Zugabe.