Inshallah

Über den Musiker Sting ergiesst sich ein Shitstorm, weil er im Bataclan ein Lied gesungen hat mit dem Titel „Inshallah“. Durch das Verwenden dieses islamischen Begriffes habe er die Terroropfer ein zweites Mal getötet, lautet eine von vielen Stimmen auf Twitter.

Doch im Text dieses Liedes geht es weder um Islamismus noch um Terrorismus. Es geht um eine Flüchtlingsfamilie in einem Boot auf dem Meer, die um ihr Überleben bangt. Das Wort Inshallah („So Gott will“) soll die Angst und gleichzeitig die Schicksalsergebenheit dieser Menschen zum Ausdruck bringen. Sie hoffen auf Rettung und wissen sich unter Gottes Macht stehend. Sie sind bereit, sich seinem Willen zu fügen.

Im arabischen Raum wird der Ausdruck „Inshallah“ häufig gebraucht, wenn von der Zukunft gesprochen wird. Bei Sätzen wie: „Morgen werde ich dieses und jenes tun…“ wird ein „Inshallah“ angefügt: „So Gott will“. Denn niemand weiss, was morgen wirklich sein wird. Menschen können ihre Pläne machen, doch deren Verwirklichung liegt nicht immer in ihrer eigenen Hand. Das Wort Inshallah ist Ausdruck grösster Frömmigkeit und Demut.

Im Wort „Inshallah“ ist das Wort „Allah“ enthalten. Zur Erinnerung: „Allah“ bedeutet nichts anderes als „Gott“. Es handelt sich wohlgemerkt um den gleichen Gott bei Juden, Christen und Muslimen. Auch in der arabischen Übersetzung der Bibel wird der Begriff „Allah“ für Gott verwendet.

Sind wir nun schon so weit gekommen, dass die blosse Erwähnung des arabischen Gottesnamens als terroristisch empfunden wird? Darf man dieses Wort nun nicht mehr aussprechen, bloss weil ein paar Extremisten diesen Begriff aufs Übelste missbraucht haben? Zählt die grosse Mehrheit der Muslime auf der Welt nichts mehr, die einfach auf friedliche Art ihren Glauben leben?

Die Wahrnehmung ist längst getrübt. Alles, was irgendwie nach Islam klingt, wird ohne Unterschied mit Extremismus, Gewalt und Terrorismus gleichgesetzt.

Ich frage mich, wie unter diesen Umständen ein friedliches und tolerantes Zusammenleben zwischen Menschen verschiedenen Glaubens noch möglich sein soll.

Wenn ein Musiker in einem Text nicht einmal mehr ein arabisches Wort verwenden darf, dann haben die Terroristen ihr Ziel bereits erreicht.

Das Lied „Inshallah“ auf Youtube:  https://youtu.be/pWkRVoi6F48

Der Text kann hier nachgelesen werden: http://www.azlyrics.com/lyrics/sting/inshallah.html

Weihnachten im Pfarramtsbüro

SSchon wieder zündet sich Theo eine Zigarette an. Eigentlich hat er ja schon vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört. Ein Pfarrer raucht schliesslich nicht, sonst wäre er ein schlechtes Vorbild für die Jugend. Aber jetzt ist eine besondere Situation. Rauchen hilft ihm beim Nachdenken, und das hat er bitter nötig, jetzt am Heiligabend um 16 Uhr 30. Er hat noch kein Wort von der Predigt geschrieben, die er in wenigen Stunden an der Christnachtfeier halten soll – und schliesslich muss er vorher auch noch mit der Familie gemütlich Weihnachten feiern.

Ratlos sitzt er vor einem leeren Blatt Papier. Von Hand kann er besser Predigten schreiben, da kann er besser denken – eigentlich. Aber jetzt…? „Liebe Gemeinde! Wieder einmal feiern wir Weihnachten!“ Ach, so ein Quatsch, das wissen die Leute doch selber, denkt Theo, zerknüllt das Papier und wirft es in hohem Bogen hinter sich auf den Boden. Das tut gut, besser als am Computer die Delete-Taste zu drücken.

Was soll er nur predigen? Nun ist er schon seit 25 Jahren im Pfarramt, er hat seine 25. Weihnachtspredigt zu schreiben. Weihnachten ist doch immer das Gleiche, aber er muss jedes Jahr etwas Neues bringen. Nächster Versuch: „Liebe Gemeinde! Was bedeutet uns Weihnachten heute?“ – Nein, das ist doch auch immer wieder dasselbe. Das nächste Papierknäuel landet auf dem Boden. Schade, dass ich keinen Kamin habe, denkt Theo, das gäbe ein hübsches Feuerchen.

In Gedanken geht er noch einmal die verschiedenen Weihnachtspredigten seiner Pfarrerkarriere durch. Beim ersten Mal, als er gerade frisch vom Studium gekommen ist, hat er eine sorgfältige Exegese der biblischen Weihnachtsgeschichte erstellt – natürlich anhand des griechischen Urtextes – und eine Auslegung gemäss der Theologie Karl Barths in seine Predigt verpackt. Er hat dann im Gottesdienst in lauter ratlose Gesichter geblickt.

Im Jahr darauf wollte er der Gemeinde die politische Dimension der Weihnachtsgeschichte näherbringen. Er zeigte auf, dass Maria und Josef Flüchtlinge waren, die Hirten Angehörige der Unterschicht, Herodes und Kaiser Augustus grausame Despoten und die Heiligen drei Könige Ausländer. Mit gereckter Faust hat er von der Kanzel herab zum Kampf gegen den Kapitalismus aufgerufen, er hat vorgerechnet, wieviele Kinder weltweit pro Sekunde verhungern und hat die Menschen gemahnt, keine Weihnachtsgeschenke zu kaufen, sondern das Geld dafür an Hilfswerke zu spenden. Er hat sich dann fast geschämt, als später eine Frau zu ihm sagte, von ihrer Sozialhilfe könne sie ihren Kindern sowieso keine Geschenke kaufen, geschweige denn etwas spenden, und um für irgendetwas politisch zu kämpfen habe sie in ihrem Alltag gar keine Kraft.

In einem anderen Jahr liess er einen verdorrten Weihnachtsbaum in die Kirche stellen, um an die Umweltzerstörung zu mahnen, und um die Verbundenheit mit der Schöpfung zum Ausdruck zu bringen, liess er sogar einen echten Ochsen und einen echten Esel in die Kirche bringen. – Die Sigristin hat daraufhin fristlos gekündigt.

Ein anderes Mal hat er in der Predigt erklärt, dass die Jungfrauengeburt keinesfalls als biologisches Faktum, sondern nur als mythologische Botschaft zu verstehen sei, und dass sämtliche Vorstellungen von Himmel und Engeln sowieso nur Projektionen des Unbewussten seien. Das gab sogar Kirchenaustritte!

Seufzend starrt Theo auf sein leeres Blatt und zündet sich die nächste Zigarette an.

 *

Inzwischen sind die zerknüllten Papierkugeln auf dem Boden zu einem Haufen angewachsen. Theos Gedanken schweifen abermals ab. Ihm kommt sein Schulkollege Kurt in den Sinn, der überzeugte Atheist. Bei jedem Klassentreffen sagt er zu ihm: „Na, bist du immer noch Pfaffe und erzählst den Leuten auf der Kanzel irgendein Geschwätz?“ Vielleicht hat er Recht? Theo kaut an seinem Kugelschreiber. Was hat er nicht alles probiert, um an Heiligabend etwas Leben in die Kirche zu bringen! Er erinnert sich noch gut an das Jahr, als er mit farbig blinkenden Lichtern die Kirche in eine Art Disco verwandelt hat. Das hat gar nicht schlecht ausgesehen! Doch als die Band mit E-Gitarre und Schlagzeug „Ihr Kinderlein kommet“ anstimmte, wollte niemand so recht mitsingen.

Dann erinnert sich Theo an die Waldweihnacht, an der es in Strömen regnete, an den amerikanischen Gospelsänger, der immer wieder „Hallelujah, praise the Lord!“ in die Kirche rief, an den Kinderchor, von dem nur die Hälfte erschien und an seinen Auftritt als Entertainer, als er mit Weihnachtsmann-Mütze auf dem Kopf mit dem Mikrophon durch die Reihen ging und Witze erzählte. Man kann ihm sicher nicht vorwerfen, dass er all die Jahre keine Ideen gehabt hätte! Und doch war die Resonanz auf seine Einfälle eher dürftig, die Reaktionen verhalten; niemals konnte auch nur ein Funken wirklicher Begeisterung oder gar weihnachtliche Stimmung aufkommen. Was macht er nur falsch?

Theo hat sich gerade für seine nächste Zigarette ein Streichholz angezündet, als sein Blick auf eine Kerze fällt, die verstaubt in einer Ecke steht. Einem inneren Impuls folgend zündet er statt der Zigarette die Kerze an. Schon lange hat er keine Kerze mehr angezündet; seit die Kinder gross sind, haben sie auch keinen Adventskranz mehr. Sein Blick verliert sich in der Flamme. Erinnerungen tauchen auf, von ganz früher, aus seiner Kindheit.

*

Vorsichtig klopft Ruth an Theos Bürotür. Sie weiss, dass ihr Mann leicht unerträglich wird, wenn man ihn beim Predigtschreiben stört. Doch jetzt muss sie ihn fragen, ob er nun eigentlich fertig sei, die Bescherung fange gleich an.

Als Ruth eintritt, erschrickt sie. „Theo, was ist mir dir? Du siehst so komisch aus! Aber Theo, du weinst ja! Geht es dir nicht gut?“

Doch da zaubert sich auf Theos tränennasses Gesicht ein seltsames Strahlen. Mit verklärtem Blick sagt er zu seiner Frau: „Doch, Ruth, es geht mir wunderbar! Mir wurde gerade der Sinn von Weihnachten offenbart. Weisst du, Exegese, politische Botschaft, Projektionen des Unbewussten, Waldweihnacht, Disco, Entertainment – das können wir alles vergessen. An Weihnachten geht es um etwas ganz anderes!“

Da fällt Ruths Blick auf das voll beschriebene Blatt Papier. Sie beginnt zu lesen:

„Liebe Gemeinde! Vergessen Sie alles, was Sie schon über Weihnachten gehört oder gelesen haben. Lassen Sie sich einfach berühren von der Weihnachtsbotschaft. In Jesus Christus ist Gott Mensch geworden und hat uns dadurch seine bedingungslose Liebe erwiesen. Lassen Sie also die Liebe Gottes mitten in Ihr Herz hineinleuchten. Spüren Sie, dass Gott die Menschen liebt, dass er auch Sie liebt, so wie Sie sind, ja Sie ganz persönlich! In den Lichtern des Weihnachtsbaumes kommt das Licht Gottes in Jesus Christus direkt zu uns, in unsere Welt und in unsere Herzen hinein. Lassen Sie dieses Licht leuchten, lassen Sie sich einladen in die Gnade und Güte, die uns in diesem Licht entgegen kommt. Und lassen Sie dieses Licht ausstrahlen, geben Sie es weiter an ihre Mitmenschen, an die Welt. Lasst uns heute ganz einfach Gottes Liebe feiern. Lassen wir uns tief berühren von der Macht, der Kraft und der Liebe, aus der die Welt entstanden ist. Lassen wir uns annehmen von dieser Macht und nehmen wir einander an. Ich wünsche Ihnen ganz einfach ein schönes, friedliches und gesegnetes Weihnachtsfest, voller Licht und voller Liebe. Amen.“

Diese Geschichte war meine Predigt in der Christnachtfeier 2013. Sie ist übrigens völlig frei erfunden. Allfällige Ähnlichkeiten mit realen Situationen oder Personen sind reiner Zufall!

Die alte und die neue Bibel

Ich habe mir eine Bibel gekauft. Für eine Theologin klingt das vielleicht etwas ungewöhnlich; man sollte meinen, dass ich schon eine habe. Das stimmt auch. Aber ich habe eine neue Bibel gebraucht, weil meine alte langsam am auseinanderfallen ist. Auch wenn ich mehrere Bibelausgaben und –Übersetzungen besitze, ist dies eben doch ein besonderes Exemplar.

Die alte Bibel habe ich mir im Jahr 1985 gekauft, als ich gerade mein Theologiestudium angefangen hatte. Es handelt sich um eine Lutherbibel in der revidierten Fassung von 1984, sie ist also damals ganz neu erschienen. Sie war, unter Wahrung der typischen Luther-Sprache, an die heutige Sprache neu angepasst worden, nachdem man festgestellt hatte, dass die alte Lutherübersetzung immer schwerer verständlich wurde.

So begann ich also mein Theologiestudium mit einer nagelneuen Bibel. Diese Bibel hat mich durch mein ganzes Studium hindurch begleitet – und danach auch durch mein ganzes bisheriges Pfarrerinnenleben, also inzwischen insgesamt 30 Jahre lang. Ich wundere mich, dass dieses Buch nicht schon längst völlig zerfleddert ist.

Auch wenn ich häufig andere Bibelübersetzungen verwende und neuerdings auch hin und wieder auf die elektronische Bibel zurückgreife, ist doch diese Ausgabe diejenige, die ich auch heute noch am meisten zur Hand nehme. Ich gebe zu, dass ich auch nach 27 Jahren in der Schweiz mich nie wirklich an die Zürcher Übersetzung gewöhnen konnte. Da liegt mir die Einheitsübersetzung näher oder, wenn es zum Vorlesen sehr gut verständlich sein soll, auch mal die „Gute Nachricht“ im heutigen Deutsch. Doch die gute alte Lutherbibel ist mir nach wie vor im Wortlaut am vertrautesten.

Die Formulierung aus Jesaja 43: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! klingt für mich einfach flüssiger, weniger sperrig und auch irgendwie poetischer als z.B. das Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir  in der Version der Einheitsübersetzung. Aber ich bin mir bewusst, dass es hier vor allem um Gewohnheiten und persönliche Vorlieben geht.

Im Theologiestudium war es sowieso üblich, mit dem Urtext auf dem Pult in der Vorlesung zu sitzen, und es gab immer Leute, die mit der grössten Selbstverständlichkeit in der Biblia Hebraica oder dem Novum Testamentum Graece herumblätterten, so als seien sie in der eigenen Muttersprache geschrieben. Ich kenne aber wenig Theologiestudierende, die nicht öfters mehr oder weniger verstohlen die deutsche Übersetzung zur Hilfe nahmen.

Nun habe ich also eine neue Bibel, ebenfalls wieder eine Lutherbibel. Es ist mir nicht leicht gefallen, mein altes Exemplar sozusagen in Pension zu schicken. Auch wenn die neue Bibel eigentlich den gleichen Text hat, ist sie für mich doch anders, noch etwas fremd und eben noch nicht so ganz „meine“. In meiner alten Bibel sind so viele Spuren zu entdecken von meiner Arbeit mit diesen Texten. Notizen am Rand, alle mit Bleistift angefertigt, Markierungen von besonders wichtigen Stellen, Striche, wo ein bestimmter Textabschnitt anfängt und aufhört, Einrahmungen wichtiger Stellen, die Nummerierung der sieben Schöpfungstage, ein dicker Strich beim „geschichtlichen Credo“ in Deuteronomium 26. Auch Spuren des Pfarramtes sind gut sichtbar: Pfeile und Striche, wo jeweils eine Lesung beginnen und enden sollte, die Markierung von Psalmen, die sich für Lesungen in der Seelsorge besonders gut eignen. Manchmal auch durchgestrichene Passagen, die ich beim Vorlesen gerne auslasse, wie z.B. im ansonsten wunderschönen Psalm 139 die Verse 19 – 22, in denen hasserfüllt den Gottlosen der Tod gewünscht wird. Und manche Seiten sind bereits zerfleddert oder sogar etwas eingerissen, z.B. bei Lukas 2, an der ich jede Weihnacht Lesezeichenkleber angebracht und wieder entfernt habe.

An dieser Bibel ist meine persönliche Beziehung zu diesem Buch sichtbar geworden. Ich sage aber ganz offen, dass ich keine Fundamentalistin bin.  Die Bibel ist meiner Ansicht nach weder vom Himmel gefallen noch von Gott diktiert worden. Sie wurde von Menschen geschrieben. Insofern ist sie für mich ein Gebrauchs- und Forschungsgegenstand. Die Menschen haben darin ihre Lebens- und Gotteserfahrungen verarbeitet. Darum sind diese Texte auch oft so spannend, bewegend, berührend, manchmal allzu menschlich, mal erbaulich und manchmal eben auch verstörend. Sie erzählen mir, wie Menschen nach Gott suchten und fragten, wie sie mit Gott rangen und immer wieder auch Gott begegneten, Wunder erlebten und neue Lebensperspektiven fanden. Es ist ein Buch, mit dem ich mich schon über die Hälfte meines Lebens auseinandersetze, mich daran reibe, manchmal auch innerlich streite, um doch immer wieder Überraschendes, Berührendes und Neues darin zu finden. Und für mich grenzt es schon fast an ein Wunder, dass ich in diesen uralten Texten immer wieder Stoff entdecke, den ich in Gesprächen und Predigten entfalten und mitteilen kann, der neue Denkanstösse hervorbringt, die ich mit anderen Menschen teilen und für unser Leben fruchtbar machen kann.

Nun werde ich mit der neuen Bibel unterwegs sein. Mit der Zeit wird auch sie immer mehr Spuren des Gebrauches bekommen. Aber ich werde nach und nach meine Eintragungen aus der alten Bibel in die neue übertragen. Auf diesen Erfahrungsschatz möchte ich nicht verzichten.

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Dieser Text wird im Mai als Editorial der „Reformiert“-Gemeindeseite, Ausgabe Thierachern, Wichtrach, Gerzensee und Kirchdorf erscheinen.

Religiöse Kompetenz

Der Kanton Bern will sein Verhältnis zur Kirche „weiterentwickeln“. In Zukunft werden die Pfarrer und Pfarrerinnen nicht mehr Angestellte des Kantons, sondern der Landeskirchen sein. Der Kanton wird aber weiterhin die Entlöhnung der Geistlichen finanzieren, weil er aufgrund historischer Rechtstitel dazu verpflichtet ist. Dies ist die Schlussfolgerung des Regierungsrates aus einem von ihm in Auftrag gegebenen Bericht zum Verhältnis zwischen Kirche und Staat.

Der Kanton will mit diesen Massnahmen seinen „finanziellen Handlungsspielraum erweitern“, was in Alltagssprache eigentlich nichts anderes heisst als: sparen. 

Ich denke, dies ist eine gesellschaftspolitische Entwicklung, die sich nicht aufhalten lässt und wohl auch nicht aufgehalten werden sollte. Was mich aber in dieser ganzen Diskussion sehr irritiert ist die Argumentation, wie sie auch von kirchlicher Seite verwendet wird. 

Im erwähnten Bericht wird unter anderem auch wertschätzend festgestellt, dass die Landeskirchen „zahlreiche gesellschaftlich relevante Dienstleistungen erbringen“, deren Wert die finanziellen Zuwendungen an die Kirchen übersteigen. In einem Säulendiagramm wird dieser Wert dargestellt und beziffert: die Säule mit der Summe der Leistungen aus entlöhnter, ehrenamtlicher und freiwilliger kirchlicher Arbeit ist um einiges höher als die Säule „Finanzierung“.

In diesem Zusammenhang steht auch das häufigste Argument, das in der politischen Diskussion immer wieder von kirchlicher Seite hervorgebracht wird: Dass die Kirche ja auch viel soziale Arbeit leiste, sie kümmere sich um Arme, Einsame und Schwache, veranstalte Seniorennachmittage und Jugendarbeit – also erbringe Leistungen, die der gesamten Gesellschaft zugute kommen. Das stimmt und ist wirklich ein wichtiges Argument. Nur, damit wird den Kirchengegnern bereits das Gegenargument in die Hand gespielt, nämlich: Das können andere auch! Auch andere wohltätige, karitative Vereine oder Organisationen können Seniorenausflüge und Jugendlager veranstalten und soziale Arbeit leisten. Dazu braucht die Gesellschaft ja nicht unbedingt eine religiöse Organisation. So kursiert bereits die Idee, man könne ja in Zukunft soziale Projekte ausschreiben, die Kirche könne sich dann darum bewerben und würde dann – vorausgesetzt, sie bekommt unter anderen Mitbewerbern den Zuschlag –  vom Staat dafür im Einzelnen bezahlt werden. Ich hoffe, dass es nie so weit kommen wird.

Das beste und wichtigste Argument, das meiner Ansicht nach aber für die Relevanz der Kirche in der Gesellschaft spricht, habe ich in der ganzen Diskussion noch kein einziges Mal gehört oder gelesen, auch nicht aus kirchlichen Kreisen. Dabei würde es doch auf der Hand liegen: Die Kirche ist im Besitz religiöser Kompetenz. Sie ist die Kraft in der Gesellschaft, die für die Themen Spiritualität und Transzendenz steht. Sie unterstützt die Menschen bei ihrem Suchen und Fragen nach dem „Anderen“, nach dem, das höher ist als das, was wir täglich erleben, was greifbar und auch be-greifbar ist. Kirche bleibt nicht beim irdisch Erlebbaren stehen, sondern thematisiert das „darüber hinaus“. Sie stützt sich dabei auf uralte Traditionen, auf Botschaften und Werte, die sich bewährt haben, sie bietet Inhalte und Rituale an, die vielen Menschen bei ihrer Lebensbewältigung helfen. Kirche hilft den Menschen, nach Sinn zu suchen, ihr Leben zu deuten und dabei auch Zweifel auszuhalten. Kirche begleitet Menschen bei ihren Lebensübergängen und allenfalls auch  –brüchen und ist besondere Expertin für die Lebensgrenzen, also Sterben, Tod und Trauer. Sie sucht Worte für das Unsagbare. Dort, wo Wirtschaft, Medizin und Sozialarbeit an ihre Grenzen stossen, steht die Kirche den Betroffenen bei.

Bei all diesen Aufgaben geht es um Religiosität und Spiritualität, um das „Rückgebundensein“ des Menschen. Darum, so behaupte ich, sind es eben auch zutiefst gesellschaftlich relevante Aufgaben. Denn jeder Mensch sucht nach Sinn, fast jeder Mensch hat mehr oder weniger spirituelle Bedürfnisse (ich behaupte: auch Atheisten, sie leben diese nur anders), und es kann der Gesellschaft nicht gleichgültig sein, wo und bei wem die Bevölkerung sich diese Bedürfnisse erfüllt. Der Staat braucht für diese anspruchsvollen Aufgaben vertrauenswürdige Partner, welche diese Arbeit auf einem hohem Niveau leisten können. Denn es ist nicht einerlei, ob sich ein Mensch in seiner Sinnsuche an einen Theologen wendet, an einen esoterischen Zirkel oder an eine radikal-fundamentalistische Gruppierung.

Noch ist es nicht so weit, dass der Staat sich aus religiösen Fragen völlig zurückzieht, aber es ist zu befürchten, dass die erste Scheibe der taktischen Salami angeschnitten ist.

Wenn sich die Kirche in dieser Diskussion nicht auf ihr ureigenstes Spezifikum und ihre besonderen Kompetenzen beruft und diese in selbstsicherer Art verteidigt, wird sie irgendwann ein ersetzbares Rädchen in der Maschinerie der Gesellschaft werden und ihre gesellschaftliche Relevanz immer mehr verlieren.

Die Zitate stammen aus der Präsentation des Berichts des Regierungsrates über das Verhältnis von Kirche und Staat im Kanton Bern anlässlich der Medienkonferenz vom 27.3.2015, siehe http://www.be.ch/portal/de/index/mediencenter/medienmitteilungen.assetref/dam/documents/portal/Medienmitteilungen/de/2015/03/2015-03-27-kirche-staat-referat-rr-neuhaus-mayer-de.pdf.

 Das erwähnte Säulendiagramm habe ich dem „Bund“ vom 28.3.15 entnommen.