Grüessech!

Dieser Text erschien als „Wort zum Sonntag“ im Thuner Tagblatt am 19.03.22

„Uf Widerluege und e schöne Tag!“ sagt die Verkäuferin beim Bäcker, nachdem sie mir das verlangte Brot über die Theke geschoben hat.

„Merci, glichfalls“, murmle ich und stolpere aus der Tür,  beinahe wäre ich noch mit jemandem zusammengestossen. Ich bin mal wieder im Stress. Schon wieder ein Tag, bei dem ich mit dem falschen Fuss aufgestanden bin! Und ich muss gleich weiter. Nachher habe ich eine Sitzung, danach schnell kochen, Abdankung vorbereiten, telefonieren und, und, und …

Doch plötzlich halte ich inne. Was hat die Verkäuferin zu mir gesagt? Sie hat mir doch gerade einen schönen Tag gewünscht! Und was mache ich? Ich stresse von einem Termin zum anderen, beachte nicht die Menschen um mich herum, merke nicht einmal, dass heute endlich mal wieder die Sonne scheint, kurz: ich tue alles andere, als diesen Tag zu einem schönen Tag werden zu lassen. Wie wäre es, wenn ich mir diesen Wunsch einmal so richtig zu Herzen nehmen würde? Da ist ein Mensch, der hofft, dass ich einen schönen Tag erleben möge. Das sollte mich doch eigentlich fast dazu verpflichten, selber dafür zu sorgen, dass dieser Tag auch wirklich schön wird. Sicher, meine Aufgaben muss ich trotzdem erledigen. Aber mit diesem Wunsch, der mir da auf den Weg gegeben worden ist, kann ich plötzlich vieles anders angehen. Dieser Tag könnte tatsächlich ein schöner Tag werden! Indem mir dies ganz bewusst ist, strahlt die Sonne ein bisschen heller, die Menschen um mich herum wirken freundlicher und der Tag ist ein bisschen weniger stressig.

Solche Wünsche werden ja täglich ganz selbstverständlich ausgesprochen. Man wünscht einander einen schönen Tag, einen guten Abend, ein schönes Wochenende, fröhliche Weihnachten oder frohe Ostern… Oft denken wir uns nicht viel dabei. Doch ursprünglich waren solche Wünsche Segenswünsche. In früheren Zeiten gab man sich einen Segen mit auf den Weg, wenn man einander begegnete. Heute noch bekannt sind die irischen Reisesegen:

Möge dein Weg dir freundlich entgegenkommen,

möge der Wind dir den Rücken stärken.

Möge die Sonne dein Gesicht erhellen

und der Regen um dich her die Felder tränken.

Und bis wir beide, du und ich uns wiedersehen,

möge Gott dich schützend in seiner Hand halten.

Das Reisen war damals eine gefährliche Angelegenheit, und mit dem Segenswunsch wollte man die Reisenden unter Gottes Schutz stellen.

Mit der Zeit ist von solchen Segenswünschen nur noch „Schöner Tag“ oder „Gute Reise“ übriggeblieben. Doch eigentlich ist jede Begrüssung bereits ein Segenswunsch: Im Hochdeutschen sagt man zur Begrüssung „Guten Tag“, genauso wie in den anderen Landessprachen: „Bonjour“, „Buongiorno“ oder „Bun di“. Unser berndeutsches „Grüessech“ bedeutet eigentlich: „Grüss Euch Gott“ – man hofft also, der oder die Angesprochene möge sich von Gott gegrüsst fühlen. Das ist doch eigentlich eine sehr schöne Vorstellung.

Ich bin dann an besagtem Tag in die Sitzung gegangen, habe gekocht, die Abdankung vorbereitet, telefoniert und noch vieles Andere erledigt. Auch wenn der Tag etwas gar vollgestopft mit Aktivitäten war, so konnte ich doch – mit dem Segenswunsch der Verkäuferin im Rücken – alles ein wenig gelassener angehen.

Es kann also gut tun, solche alltäglichen Wünsche einmal ganz wörtlich zu nehmen oder vielleicht sogar als Segenswunsch zu verstehen. Und ebenso gut tut es, solche Wünsche unseren Mitmenschen gegenüber mal ganz bewusst auszusprechen.

Also, wann immer Sie diese Zeilen lesen: Ich wünsche Ihnen aus tiefstem Herzen einen ganz besonders schönen Tag!

Gesegnet in das neue Jahr

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Auch dieses Jahr verbrachte ich zum Jahreswechsel wieder drei Tage alleine in den Bündner Bergen. Ich brauche diesen Kurzurlaub, um mich von den anstrengenden Weihnachtstagen zu erholen, dem drohenden „Feiertagskoller“ zu entfliehen und zum Übergang der Zeiten einfach mal ganz für mich zu sein. Und nicht zuletzt um eine Gegend zu besuchen, die für mich so etwas wie eine „Herzensheimat“ ist.

Neben der Zugfahrt hin und zurück, die für mich ebenfalls schon Urlaub bedeutet, konnte ich in den zwei Tagen Aufenthalt vieles unternehmen: mich von der Rhätischen Bahn durch die Kehrtunnels schaukeln lassen, die „längste Schlittelbahn Europas“ herunterschlitteln, eine Zeitreise zum schwindenden Morteratschgletscher unternehmen, natürlich wellnessen und abends im Hotelzimmer Rück- und Vorschau auf das alte und das neue Jahr halten.

Den eindrücklichsten Moment erlebte ich jedoch bei einer meiner Wanderungen durch die Winterlandschaft der Albula-Region. Im Weiler Stuls, der nur aus wenigen Häusern besteht, gelangte ich zu einem kleinen Kirchlein, das ursprünglich ein Oratorium, also ein Gebetsraum für durchziehende Wanderer war. Von aussen sieht es zwar klein und unscheinbar aus, in seinem Inneren birgt es jedoch unermessliche Schätze: Die Seitenwände und die Decke sind rundum mit wunderschönen Fresken ausgemalt. Die Bilder aus dem 14. Jahrhundert haben eine starke Ausdruckskraft. Sie vermitteln uns etwas von der mittelalterlichen Spiritualität, zu deren Tiefe und Unmittelbarkeit wir in der heutigen Zeit kaum noch Zugang haben.

Die Darstellungen erzählen aus dem Leben Jesu; vor allem die Passionsgeschichte nimmt grossen Raum ein. Zu sehen ist Jesus, der beim Abendmahl dem Judas das Brot reicht (Jesu Zuwendung gilt dem Menschen, der sie in seiner Gebrochenheit am meisten nötig hat), der die Geisselung und den Gang zum Kreuz mit grosser Sanftmut erträgt und der schliesslich nach seinem Tod von seinen Getreuen mit inniger Zärtlichkeit vom Kreuz genommen und betrauert wird.

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Das Eindrücklichste ist jedoch das Deckengemälde. In der Rundung des Gewölbes thront Christus in der regenbogenfarbigen Mandorla, die Hand zum Segen erhoben.

Obwohl ich die biblischen Geschichten bereits zur Genüge durchexegetisiert und schon zahlreiche Darstellungen davon gesehen habe, berühren mich die Bilder in der Kirche Stuls zutiefst. In diesem kleinen Raum, der mit seinem Tonnengewölbe eine tiefe Geborgenheit vermittelt, erlebte ich einen spirituellen Moment. Die Bilder brachten etwas tief in meinem Innersten in Schwingung, das ich mit Worten nicht beschreiben kann. So blieb ich ein paar Minuten und liess den Geist dieses Raumes auf mich wirken.

Bevor ich mich schliesslich zum Gehen wandte, stellte ich mich ganz bewusst unter das Deckenbild mit dem segnenden Christus. Da bekam ich das Gefühl, dass der göttliche Segen mich zu umhüllen und durchdringen schien. Die Inschrift in der Chorwand erinnerte mich daran, dass die göttliche Kraft allzeit bei mir sein würde.

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So verliess ich die Kirche, konnte meinen Weg fortsetzen und gesegnet in das neue Jahr gehen.

Literatur und Bilder: https://desertina.ch/shop/index.php/produkt/heilende-bilder/