Gesegnet in das neue Jahr

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Auch dieses Jahr verbrachte ich zum Jahreswechsel wieder drei Tage alleine in den Bündner Bergen. Ich brauche diesen Kurzurlaub, um mich von den anstrengenden Weihnachtstagen zu erholen, dem drohenden „Feiertagskoller“ zu entfliehen und zum Übergang der Zeiten einfach mal ganz für mich zu sein. Und nicht zuletzt um eine Gegend zu besuchen, die für mich so etwas wie eine „Herzensheimat“ ist.

Neben der Zugfahrt hin und zurück, die für mich ebenfalls schon Urlaub bedeutet, konnte ich in den zwei Tagen Aufenthalt vieles unternehmen: mich von der Rhätischen Bahn durch die Kehrtunnels schaukeln lassen, die „längste Schlittelbahn Europas“ herunterschlitteln, eine Zeitreise zum schwindenden Morteratschgletscher unternehmen, natürlich wellnessen und abends im Hotelzimmer Rück- und Vorschau auf das alte und das neue Jahr halten.

Den eindrücklichsten Moment erlebte ich jedoch bei einer meiner Wanderungen durch die Winterlandschaft der Albula-Region. Im Weiler Stuls, der nur aus wenigen Häusern besteht, gelangte ich zu einem kleinen Kirchlein, das ursprünglich ein Oratorium, also ein Gebetsraum für durchziehende Wanderer war. Von aussen sieht es zwar klein und unscheinbar aus, in seinem Inneren birgt es jedoch unermessliche Schätze: Die Seitenwände und die Decke sind rundum mit wunderschönen Fresken ausgemalt. Die Bilder aus dem 14. Jahrhundert haben eine starke Ausdruckskraft. Sie vermitteln uns etwas von der mittelalterlichen Spiritualität, zu deren Tiefe und Unmittelbarkeit wir in der heutigen Zeit kaum noch Zugang haben.

Die Darstellungen erzählen aus dem Leben Jesu; vor allem die Passionsgeschichte nimmt grossen Raum ein. Zu sehen ist Jesus, der beim Abendmahl dem Judas das Brot reicht (Jesu Zuwendung gilt dem Menschen, der sie in seiner Gebrochenheit am meisten nötig hat), der die Geisselung und den Gang zum Kreuz mit grosser Sanftmut erträgt und der schliesslich nach seinem Tod von seinen Getreuen mit inniger Zärtlichkeit vom Kreuz genommen und betrauert wird.

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Das Eindrücklichste ist jedoch das Deckengemälde. In der Rundung des Gewölbes thront Christus in der regenbogenfarbigen Mandorla, die Hand zum Segen erhoben.

Obwohl ich die biblischen Geschichten bereits zur Genüge durchexegetisiert und schon zahlreiche Darstellungen davon gesehen habe, berühren mich die Bilder in der Kirche Stuls zutiefst. In diesem kleinen Raum, der mit seinem Tonnengewölbe eine tiefe Geborgenheit vermittelt, erlebte ich einen spirituellen Moment. Die Bilder brachten etwas tief in meinem Innersten in Schwingung, das ich mit Worten nicht beschreiben kann. So blieb ich ein paar Minuten und liess den Geist dieses Raumes auf mich wirken.

Bevor ich mich schliesslich zum Gehen wandte, stellte ich mich ganz bewusst unter das Deckenbild mit dem segnenden Christus. Da bekam ich das Gefühl, dass der göttliche Segen mich zu umhüllen und durchdringen schien. Die Inschrift in der Chorwand erinnerte mich daran, dass die göttliche Kraft allzeit bei mir sein würde.

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So verliess ich die Kirche, konnte meinen Weg fortsetzen und gesegnet in das neue Jahr gehen.

Literatur und Bilder: https://desertina.ch/shop/index.php/produkt/heilende-bilder/

„Sex & Gott & Rock’n’Roll“ – eine Rezension

Die Romantrilogie „Sex & Gott & Rock’n’Roll“ erzählt die bewegte Geschichte von Jeannie und Johnny, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt (ich beziehe mich hier auf die gesamte Trilogie).

Jeannie und Johnny sind durch eine tiefe Liebe miteinander verbunden, können dennoch nicht wirklich als Paar zusammen sein und kommen doch ihr Leben lang nicht voneinander los.

Das Buch begleitet Jeannie und Johnny fast durch ihre ganze Lebensgeschichte hindurch, angefangen mit ihrer Kindheit in den 50er/60er Jahren über die Jugendzeit in den 70ern, es endet in unserer Gegenwart im Alter von 60 Jahren. Dazwischen finden sich bewegte Jahrzehnte voller Höhen und Tiefen, tiefer Liebe und dramatischen Trennungen, intensiv empfundenen Glückes und abgrundtiefer Verzweiflung, Seelenverwandtschaft und innerer Zerrissenheit.

Der Titel „Sex & Gott & Rock’n’Roll“ umschreibt sehr gut die drei thematischen Schwerpunkte des Werkes: Liebe und Sexualität, die spirituelle Sinnsuche und der jeweilige Zeitgeist. Ersteres dominiert das Buch teilweise, was ihm jedoch keinen Abbruch tut, denn die erotischen Szenen sind stets in schöner Sprache und respektvoll geschildert. Die beiden anderen Themen hätten dagegen ruhig noch etwas mehr zum Zug kommen können. Das Thema Spiritualität bleibt inhaltlich teilweise etwas vage. Und neben der Erwähnung der Rockmusik der 70er Jahre (ich warte noch auf die CD zum Buch) wären noch weitere Seitenblicke auf den jeweiligen kulturellen und gesellschaftspolitischen Hintergrund interessant gewesen.

Als Leserin war ich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt, konnte zusammen mit Jeannie und Johnny mitleiden, hoffen, bangen, fühlen und trauern. Ihre Beweggründe und Handlungen waren für mich stets nachvollziehbar. Dazu trägt auch der flüssige, anschauliche Sprachstil bei. Bei der Qualität dieses Werkes ist es erstaunlich, dass Tilmann Haberer bislang nicht als Romanautor hervorgetreten ist, sondern als Autor theologischer Sachbücher (So ist z.B. das Buch „Gott 9.0“, das er zusammen mit Marion und Werner Küstenmacher geschrieben hat, ebenfalls sehr lesenswert). Der theologische Hintergrund des Autors wird im Buch auf unaufdringliche, aber bereichernde Art spürbar.

Das Werk „Sex & Gott & Rock’n’Roll“ ist viel mehr als nur ein Liebesroman. Es ist ein Buch über das Leben mit all seinen Facetten, auch vor den Themen Krankheit, Alter und Tod macht es nicht Halt. Ich wünsche mir noch mehr solcher Bücher und hoffe, Tilmann Haberer schreibt weiter.

 

 

 

 

 

 

Zum Dreikönigstag

Fast hätte ich vergessen, dass ja heute der Dreikönigstag ist, an vielen Orten ein Feiertag, bei uns aber nicht. Für mich ist das ein normaler Arbeitstag. Und weil mein jüngerer Sohn noch in den Ferien weilt, haben wir heute auch keinen „Königskuchen“ gegessen.

Doch um den Feiertag trotzdem etwas zu begehen, stelle ich hier eine Predigt zur Verfügung, die ich vor einigen Jahren gehalten habe. Es geht um eine ganz besondere, faszinierende Darstellung eines Aspektes der Dreikönigsgeschichte.

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Von den Heiligen 3 Königen gibt es sehr viele Darstellungen in der Kunstgeschichte. In vielen Abbildungen sieht man, wie sie auf Pferden oder Kamelen dem Stern folgen. Noch häufiger sind Bilder, auf denen sie im Stall zu Bethlehem das Jesuskind anbeten, zum Teil sogar auf Knien, und ihm ihre Geschenke überbringen.

Heute möchte ich Ihnen ein Bild zeigen, auf dem die Heiligen 3 Könige in einer sehr aussergewöhnlichen Situation dargestellt werden:

Es handelt sich hierbei um ein Relief, das im Münster von Autun im Burgund zu sehen ist. Es stammt aus dem 12. Jahrhundert und wurde von einem Künstler namens Gislebertus erschaffen.

Bei dieser Darstellung liegen die drei Könige im Bett. Dieses Bild bezieht sich auf den Bibelvers, in dem es heisst, ein Traum habe sie angewiesen, nach ihrem Besuch in Bethlehem nicht zu König Herodes zurückzukehren. Auf dem Relief wird das so dargestellt, dass ein Engel den drei Königen im Traum erscheint und ihnen seine Nachricht überbringt.

Dieser Engel drückt eine faszinierende Mischung aus Sanftheit und Entschlossenheit aus: nur zart berührt er den ersten König am kleinen Finger, doch mit grosser Entschlossenheit zeigt er auf den Stern. Trotz seiner Zartheit spürt man auch einen starken Impuls, mit dem der Engel den König auf die Dringlichkeit seiner Mission aufmerksam macht. Der erste König hat die Augen geöffnet, ist also durch den Engel wach geworden, während die anderen noch schlafen.

Die Botschaft des Engels ist wirklich sehr dringend: Schliesslich geht es um das Leben des Jesuskindes. Der Engel macht die Könige darauf aufmerksam, dass sie auf keinen Fall zu Herodes zurückkehren, sondern unbedingt weiter dem Stern folgen sollen! Der Stern weist ihnen auch weiterhin den richtigen Weg. Glücklicherweise kommt die Botschaft an, und die Könige ziehen auf einem anderen Weg in ihre Heimat zurück.

Die Bildhauerarbeit des Gislebertus erzählt die Geschichte vom Stern zu Bethlehem weiter. In der Geschichte, die uns dieses Relief erzählt, sagt der Engel zu den Königen: Passt auf, seid wachsam und verliert euren Stern nicht aus den Augen! Glaubt nicht, schlafen zu können, weil ihr meint, am Ziel angekommen zu sein. Geht euren Weg weiter und orientiert euch am Stern, um auch weiterhin den richtigen Weg zu finden!

Der Stern von Bethlehem ist überhaupt ein sehr schönes Motiv der Weihnachtsgeschichte: Ein Stern weist den Menschen, die den Heiland suchen, den Weg und bleibt über dem richtigen Ort stehen. Es ist ein Stern, der Licht bringt und den Menschen auf ihrem Weg leuchtet.

Der Stern bringt nicht nur Licht, sondern er steht auch für das, was entscheidend und wichtig ist. Er steht für ein besonderes Ziel und weist den Weg dorthin.

In Grunde genommen hat jeder Mensch so einen Stern. Ich meine damit die Pläne und Ziele, die jeder und jede verfolgt. Jeder hat seinen eigenen Weg, um seine Ziele zu verwirklichen. Es gibt Menschen, die haben zum Ziel, möglichst reich zu werden. Andere streben nach einem Beruf, der Spass macht und ihnen Erfüllung bringt. Wiederum andere möchten etwas tun, das anderen Menschen hilft, sie möchten sich einsetzen für eine bessere Welt. Andere versuchen, sich in einer künstlerischen Betätigung persönlich zu entfalten. Oder ihr Ziel ist Erfolg im Leistungssport. Es gibt auch Menschen, die einfach nach persönlicher Erfüllung streben, die im Einklang mit sich selber und ihrem Umfeld leben wollen.

Jeder Mensch muss seine eigenen Ziele finden, sie können sich im Laufe eines Lebens auch verändern. Bei einem jungen Menschen sehen sie sicher anders aus als bei einem alten. Doch es ist das ganze Leben hindurch wichtig, dass ein Mensch Ideen hat, weiss, was er will und wohin er möchte.

Die Frage ist, woran man sich beim Verfolgen seiner Ziele orientiert. Menschen, die z.B. viel Geld zum Ziel haben, orientieren sich an Börsenkursen, überlegen, wie sie eine Karriere machen können, die besonders viel Geld bringt. Wer einen erfüllenden Beruf sucht, legt Wert auf eine gute Ausbildung. So hat jedes Ziel auch seinen eigenen Weg. Jeder muss im Leben seine eigenen Ziele finden, und dazu jeweils auch die Wege, die dorthin führen.

Ich lade Sie jetzt dazu ein, sich selber zu fragen:

  • Was ist mein persönlicher Stern? Was ist wichtig und entscheidend in meinem Leben?
  • Was für Ziele habe ich, im Leben insgesamt und in meiner momentanen Lebenssituation?
  • Wie finde ich überhaupt meine Ziele? Woran orientiere ich mich dabei? Habe ich einen Stern, der mir leuchtet oder tappe ich im Dunklen?
  • Kenne ich den Weg, der zum Ziel führt und gehe ich ihn entschlossen, oder irre ich wie in einem Labyrinth umher?
  • Nehme ich auch mal Umwege in Kauf, wenn sie zum Ziel führen?
  • Bleibe ich bei meinen gewählten Zielen oder ändere ich sie immer wieder, noch bevor ich sie erreicht habe?
  • Und: Gibt es auch Ziele, die ich mit der Zeit aufgeben muss, weil sie sich als unerreichbar oder gar als sinnlos herausgestellt haben?

Es ist gut, sich hin und wieder mal mit solchen Fragen auseinanderzusetzen.

Ebenso wichtig wie die Frage nach den Zielen ist die Frage, woran wir uns orientieren, welcher Stern uns den Weg leuchten soll. Denn wir müssen auch aufpassen, dass wir uns nach dem richtigen Stern ausrichten. Es gibt auch falsche Wegweiser, falsche Eingebungen oder falsche Anweisungen von aussen.

Der Engel in der Geschichte sagt: Seid wachsam, schaut, worauf es ankommt, und geht den richtigen Weg! Sein Erscheinen ist gleichzeitig auch eine Warnung. Denn beinahe wären die Könige den falschen Weg gegangen. Um ein Haar hätten sie sich einspannen lassen in die mörderischen Pläne des Herodes. Ebenso gibt es auch in unserer Zeit Heilslehren, Ideologien, Weltanschauungen oder gar Verführungen, denen blind zu folgen gefährlich sein kann. Darum ist es wichtig, dass wir dem richtigen Stern folgen.

Was kann unser Stern sein? Wie können wir ihn finden? Was hilft uns, unsere Ziele zu finden, wichtige Entscheidungen zu treffen und den richtigen Weg einzuschlagen?

Die Antwort darauf muss jeder Mensch für sich selber finden. Für viele Menschen ist der Glaube eine wichtige Quelle. In Gebet, in der Zwiesprache mit Gott, in der Stille, im Bibelstudium, im Gottesdienst oder in Gesprächen mit anderen Menschen ist es möglich, Orientierung für wichtige Entscheidungen im Leben zu finden. Manche Leute nennen das auch Intuition, sie folgen ihrem Herzen oder ihrem Bauchgefühl. Viele finden – wie auf dem Bild – in ihren Träumen Wegweisungen und Erkenntnisse für ihr Leben.

Ich glaube, dass Gott uns hilft, Entscheidungen zu treffen und den richtigen Weg zu finden. Wichtig ist, dass wir wachsam sind für das, was Gott uns sagen will. Dass wir Gottes Wegweisungen mit offenen Ohren und Augen begegnen, anstatt sie zu verschlafen, wie die beiden anderen Könige auf dem Relief.

Was auch immer Ihre Art sein wird, Ihre Ziele und Wege zu suchen: Ich wünsche Ihnen ganz besonders für das kommende Jahr, dass Sie diese auch finden werden.

Predigt am 8. Januar 2012 in Uebeschi.

Weihnachten im Pfarramtsbüro

SSchon wieder zündet sich Theo eine Zigarette an. Eigentlich hat er ja schon vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört. Ein Pfarrer raucht schliesslich nicht, sonst wäre er ein schlechtes Vorbild für die Jugend. Aber jetzt ist eine besondere Situation. Rauchen hilft ihm beim Nachdenken, und das hat er bitter nötig, jetzt am Heiligabend um 16 Uhr 30. Er hat noch kein Wort von der Predigt geschrieben, die er in wenigen Stunden an der Christnachtfeier halten soll – und schliesslich muss er vorher auch noch mit der Familie gemütlich Weihnachten feiern.

Ratlos sitzt er vor einem leeren Blatt Papier. Von Hand kann er besser Predigten schreiben, da kann er besser denken – eigentlich. Aber jetzt…? „Liebe Gemeinde! Wieder einmal feiern wir Weihnachten!“ Ach, so ein Quatsch, das wissen die Leute doch selber, denkt Theo, zerknüllt das Papier und wirft es in hohem Bogen hinter sich auf den Boden. Das tut gut, besser als am Computer die Delete-Taste zu drücken.

Was soll er nur predigen? Nun ist er schon seit 25 Jahren im Pfarramt, er hat seine 25. Weihnachtspredigt zu schreiben. Weihnachten ist doch immer das Gleiche, aber er muss jedes Jahr etwas Neues bringen. Nächster Versuch: „Liebe Gemeinde! Was bedeutet uns Weihnachten heute?“ – Nein, das ist doch auch immer wieder dasselbe. Das nächste Papierknäuel landet auf dem Boden. Schade, dass ich keinen Kamin habe, denkt Theo, das gäbe ein hübsches Feuerchen.

In Gedanken geht er noch einmal die verschiedenen Weihnachtspredigten seiner Pfarrerkarriere durch. Beim ersten Mal, als er gerade frisch vom Studium gekommen ist, hat er eine sorgfältige Exegese der biblischen Weihnachtsgeschichte erstellt – natürlich anhand des griechischen Urtextes – und eine Auslegung gemäss der Theologie Karl Barths in seine Predigt verpackt. Er hat dann im Gottesdienst in lauter ratlose Gesichter geblickt.

Im Jahr darauf wollte er der Gemeinde die politische Dimension der Weihnachtsgeschichte näherbringen. Er zeigte auf, dass Maria und Josef Flüchtlinge waren, die Hirten Angehörige der Unterschicht, Herodes und Kaiser Augustus grausame Despoten und die Heiligen drei Könige Ausländer. Mit gereckter Faust hat er von der Kanzel herab zum Kampf gegen den Kapitalismus aufgerufen, er hat vorgerechnet, wieviele Kinder weltweit pro Sekunde verhungern und hat die Menschen gemahnt, keine Weihnachtsgeschenke zu kaufen, sondern das Geld dafür an Hilfswerke zu spenden. Er hat sich dann fast geschämt, als später eine Frau zu ihm sagte, von ihrer Sozialhilfe könne sie ihren Kindern sowieso keine Geschenke kaufen, geschweige denn etwas spenden, und um für irgendetwas politisch zu kämpfen habe sie in ihrem Alltag gar keine Kraft.

In einem anderen Jahr liess er einen verdorrten Weihnachtsbaum in die Kirche stellen, um an die Umweltzerstörung zu mahnen, und um die Verbundenheit mit der Schöpfung zum Ausdruck zu bringen, liess er sogar einen echten Ochsen und einen echten Esel in die Kirche bringen. – Die Sigristin hat daraufhin fristlos gekündigt.

Ein anderes Mal hat er in der Predigt erklärt, dass die Jungfrauengeburt keinesfalls als biologisches Faktum, sondern nur als mythologische Botschaft zu verstehen sei, und dass sämtliche Vorstellungen von Himmel und Engeln sowieso nur Projektionen des Unbewussten seien. Das gab sogar Kirchenaustritte!

Seufzend starrt Theo auf sein leeres Blatt und zündet sich die nächste Zigarette an.

 *

Inzwischen sind die zerknüllten Papierkugeln auf dem Boden zu einem Haufen angewachsen. Theos Gedanken schweifen abermals ab. Ihm kommt sein Schulkollege Kurt in den Sinn, der überzeugte Atheist. Bei jedem Klassentreffen sagt er zu ihm: „Na, bist du immer noch Pfaffe und erzählst den Leuten auf der Kanzel irgendein Geschwätz?“ Vielleicht hat er Recht? Theo kaut an seinem Kugelschreiber. Was hat er nicht alles probiert, um an Heiligabend etwas Leben in die Kirche zu bringen! Er erinnert sich noch gut an das Jahr, als er mit farbig blinkenden Lichtern die Kirche in eine Art Disco verwandelt hat. Das hat gar nicht schlecht ausgesehen! Doch als die Band mit E-Gitarre und Schlagzeug „Ihr Kinderlein kommet“ anstimmte, wollte niemand so recht mitsingen.

Dann erinnert sich Theo an die Waldweihnacht, an der es in Strömen regnete, an den amerikanischen Gospelsänger, der immer wieder „Hallelujah, praise the Lord!“ in die Kirche rief, an den Kinderchor, von dem nur die Hälfte erschien und an seinen Auftritt als Entertainer, als er mit Weihnachtsmann-Mütze auf dem Kopf mit dem Mikrophon durch die Reihen ging und Witze erzählte. Man kann ihm sicher nicht vorwerfen, dass er all die Jahre keine Ideen gehabt hätte! Und doch war die Resonanz auf seine Einfälle eher dürftig, die Reaktionen verhalten; niemals konnte auch nur ein Funken wirklicher Begeisterung oder gar weihnachtliche Stimmung aufkommen. Was macht er nur falsch?

Theo hat sich gerade für seine nächste Zigarette ein Streichholz angezündet, als sein Blick auf eine Kerze fällt, die verstaubt in einer Ecke steht. Einem inneren Impuls folgend zündet er statt der Zigarette die Kerze an. Schon lange hat er keine Kerze mehr angezündet; seit die Kinder gross sind, haben sie auch keinen Adventskranz mehr. Sein Blick verliert sich in der Flamme. Erinnerungen tauchen auf, von ganz früher, aus seiner Kindheit.

*

Vorsichtig klopft Ruth an Theos Bürotür. Sie weiss, dass ihr Mann leicht unerträglich wird, wenn man ihn beim Predigtschreiben stört. Doch jetzt muss sie ihn fragen, ob er nun eigentlich fertig sei, die Bescherung fange gleich an.

Als Ruth eintritt, erschrickt sie. „Theo, was ist mir dir? Du siehst so komisch aus! Aber Theo, du weinst ja! Geht es dir nicht gut?“

Doch da zaubert sich auf Theos tränennasses Gesicht ein seltsames Strahlen. Mit verklärtem Blick sagt er zu seiner Frau: „Doch, Ruth, es geht mir wunderbar! Mir wurde gerade der Sinn von Weihnachten offenbart. Weisst du, Exegese, politische Botschaft, Projektionen des Unbewussten, Waldweihnacht, Disco, Entertainment – das können wir alles vergessen. An Weihnachten geht es um etwas ganz anderes!“

Da fällt Ruths Blick auf das voll beschriebene Blatt Papier. Sie beginnt zu lesen:

„Liebe Gemeinde! Vergessen Sie alles, was Sie schon über Weihnachten gehört oder gelesen haben. Lassen Sie sich einfach berühren von der Weihnachtsbotschaft. In Jesus Christus ist Gott Mensch geworden und hat uns dadurch seine bedingungslose Liebe erwiesen. Lassen Sie also die Liebe Gottes mitten in Ihr Herz hineinleuchten. Spüren Sie, dass Gott die Menschen liebt, dass er auch Sie liebt, so wie Sie sind, ja Sie ganz persönlich! In den Lichtern des Weihnachtsbaumes kommt das Licht Gottes in Jesus Christus direkt zu uns, in unsere Welt und in unsere Herzen hinein. Lassen Sie dieses Licht leuchten, lassen Sie sich einladen in die Gnade und Güte, die uns in diesem Licht entgegen kommt. Und lassen Sie dieses Licht ausstrahlen, geben Sie es weiter an ihre Mitmenschen, an die Welt. Lasst uns heute ganz einfach Gottes Liebe feiern. Lassen wir uns tief berühren von der Macht, der Kraft und der Liebe, aus der die Welt entstanden ist. Lassen wir uns annehmen von dieser Macht und nehmen wir einander an. Ich wünsche Ihnen ganz einfach ein schönes, friedliches und gesegnetes Weihnachtsfest, voller Licht und voller Liebe. Amen.“

Diese Geschichte war meine Predigt in der Christnachtfeier 2013. Sie ist übrigens völlig frei erfunden. Allfällige Ähnlichkeiten mit realen Situationen oder Personen sind reiner Zufall!

Religiöse Kompetenz

Der Kanton Bern will sein Verhältnis zur Kirche „weiterentwickeln“. In Zukunft werden die Pfarrer und Pfarrerinnen nicht mehr Angestellte des Kantons, sondern der Landeskirchen sein. Der Kanton wird aber weiterhin die Entlöhnung der Geistlichen finanzieren, weil er aufgrund historischer Rechtstitel dazu verpflichtet ist. Dies ist die Schlussfolgerung des Regierungsrates aus einem von ihm in Auftrag gegebenen Bericht zum Verhältnis zwischen Kirche und Staat.

Der Kanton will mit diesen Massnahmen seinen „finanziellen Handlungsspielraum erweitern“, was in Alltagssprache eigentlich nichts anderes heisst als: sparen. 

Ich denke, dies ist eine gesellschaftspolitische Entwicklung, die sich nicht aufhalten lässt und wohl auch nicht aufgehalten werden sollte. Was mich aber in dieser ganzen Diskussion sehr irritiert ist die Argumentation, wie sie auch von kirchlicher Seite verwendet wird. 

Im erwähnten Bericht wird unter anderem auch wertschätzend festgestellt, dass die Landeskirchen „zahlreiche gesellschaftlich relevante Dienstleistungen erbringen“, deren Wert die finanziellen Zuwendungen an die Kirchen übersteigen. In einem Säulendiagramm wird dieser Wert dargestellt und beziffert: die Säule mit der Summe der Leistungen aus entlöhnter, ehrenamtlicher und freiwilliger kirchlicher Arbeit ist um einiges höher als die Säule „Finanzierung“.

In diesem Zusammenhang steht auch das häufigste Argument, das in der politischen Diskussion immer wieder von kirchlicher Seite hervorgebracht wird: Dass die Kirche ja auch viel soziale Arbeit leiste, sie kümmere sich um Arme, Einsame und Schwache, veranstalte Seniorennachmittage und Jugendarbeit – also erbringe Leistungen, die der gesamten Gesellschaft zugute kommen. Das stimmt und ist wirklich ein wichtiges Argument. Nur, damit wird den Kirchengegnern bereits das Gegenargument in die Hand gespielt, nämlich: Das können andere auch! Auch andere wohltätige, karitative Vereine oder Organisationen können Seniorenausflüge und Jugendlager veranstalten und soziale Arbeit leisten. Dazu braucht die Gesellschaft ja nicht unbedingt eine religiöse Organisation. So kursiert bereits die Idee, man könne ja in Zukunft soziale Projekte ausschreiben, die Kirche könne sich dann darum bewerben und würde dann – vorausgesetzt, sie bekommt unter anderen Mitbewerbern den Zuschlag –  vom Staat dafür im Einzelnen bezahlt werden. Ich hoffe, dass es nie so weit kommen wird.

Das beste und wichtigste Argument, das meiner Ansicht nach aber für die Relevanz der Kirche in der Gesellschaft spricht, habe ich in der ganzen Diskussion noch kein einziges Mal gehört oder gelesen, auch nicht aus kirchlichen Kreisen. Dabei würde es doch auf der Hand liegen: Die Kirche ist im Besitz religiöser Kompetenz. Sie ist die Kraft in der Gesellschaft, die für die Themen Spiritualität und Transzendenz steht. Sie unterstützt die Menschen bei ihrem Suchen und Fragen nach dem „Anderen“, nach dem, das höher ist als das, was wir täglich erleben, was greifbar und auch be-greifbar ist. Kirche bleibt nicht beim irdisch Erlebbaren stehen, sondern thematisiert das „darüber hinaus“. Sie stützt sich dabei auf uralte Traditionen, auf Botschaften und Werte, die sich bewährt haben, sie bietet Inhalte und Rituale an, die vielen Menschen bei ihrer Lebensbewältigung helfen. Kirche hilft den Menschen, nach Sinn zu suchen, ihr Leben zu deuten und dabei auch Zweifel auszuhalten. Kirche begleitet Menschen bei ihren Lebensübergängen und allenfalls auch  –brüchen und ist besondere Expertin für die Lebensgrenzen, also Sterben, Tod und Trauer. Sie sucht Worte für das Unsagbare. Dort, wo Wirtschaft, Medizin und Sozialarbeit an ihre Grenzen stossen, steht die Kirche den Betroffenen bei.

Bei all diesen Aufgaben geht es um Religiosität und Spiritualität, um das „Rückgebundensein“ des Menschen. Darum, so behaupte ich, sind es eben auch zutiefst gesellschaftlich relevante Aufgaben. Denn jeder Mensch sucht nach Sinn, fast jeder Mensch hat mehr oder weniger spirituelle Bedürfnisse (ich behaupte: auch Atheisten, sie leben diese nur anders), und es kann der Gesellschaft nicht gleichgültig sein, wo und bei wem die Bevölkerung sich diese Bedürfnisse erfüllt. Der Staat braucht für diese anspruchsvollen Aufgaben vertrauenswürdige Partner, welche diese Arbeit auf einem hohem Niveau leisten können. Denn es ist nicht einerlei, ob sich ein Mensch in seiner Sinnsuche an einen Theologen wendet, an einen esoterischen Zirkel oder an eine radikal-fundamentalistische Gruppierung.

Noch ist es nicht so weit, dass der Staat sich aus religiösen Fragen völlig zurückzieht, aber es ist zu befürchten, dass die erste Scheibe der taktischen Salami angeschnitten ist.

Wenn sich die Kirche in dieser Diskussion nicht auf ihr ureigenstes Spezifikum und ihre besonderen Kompetenzen beruft und diese in selbstsicherer Art verteidigt, wird sie irgendwann ein ersetzbares Rädchen in der Maschinerie der Gesellschaft werden und ihre gesellschaftliche Relevanz immer mehr verlieren.

Die Zitate stammen aus der Präsentation des Berichts des Regierungsrates über das Verhältnis von Kirche und Staat im Kanton Bern anlässlich der Medienkonferenz vom 27.3.2015, siehe http://www.be.ch/portal/de/index/mediencenter/medienmitteilungen.assetref/dam/documents/portal/Medienmitteilungen/de/2015/03/2015-03-27-kirche-staat-referat-rr-neuhaus-mayer-de.pdf.

 Das erwähnte Säulendiagramm habe ich dem „Bund“ vom 28.3.15 entnommen.

 

Sonnenfinsternis

Es ist der Morgen des 20. März 2015. Kein gewöhnlicher Tag. Heute ist Sonnenfinsternis.

Ich habe es versäumt, mich um eine Schutzbrille zu bemühen. Ich habe gedacht, ich hätte noch eine von 1999, aber ich habe sie zuhause nicht mehr gefunden. So eine Sonnenfinsternis gibt es ja nicht alle Tage. Es ist schon irgendwie etwas Spezielles. Und man weiss ja nie, ob man die nächste noch erleben wird. Eine totale Sonnenfinsternis müsste etwas Tolles sein. Leute, die das schon erlebt haben, berichten, es sei ein absolut eindrückliches Erlebnis. Ein riesiges schwarzes Auge starre einen an. Das haut einen total um, auch wenn man es naturwissenschaftlich erklären kann. Spitzbergen wäre jetzt wirklich ein sehr imposantes Erlebnis gewesen, allein schon wegen der Landschaft dort. Aber leider fehlt mir sowohl die Zeit als auch das Kleingeld, um eine solche Reise zu unternehmen.

So überlege ich mir, wie ich diesen Vormittag sinnvollerweise verbringen könnte. Den ersten Termin habe ich erst gegen 11 Uhr. Hätte ich eine Schutzbrille gehabt, wäre ich wahrscheinlich Zuhause geblieben , hätte diverse Büroarbeiten gemacht und dabei die Sonnenfinsternis mitverfolgt. Nun könnte ich den Stand des Mondes vor der Sonne wenigstens im Livestream anschauen. Aber ich habe keine Lust zu Büroarbeiten, dann habe ich das Gefühl, den Vormittag doch irgendwie vertrödelt zu haben. Ich entscheide, etwas wirklich Sinnvolles zu tun und ins nahegelegene Altersheim zu gehen, um dort ein paar Leute zu besuchen. Ich bin sowieso mit meinen Seelsorgebesuchen im Rückstand, die Leute warten schon lange auf mich.

Ich besuche insgesamt vier Personen, die alle über meinen Besuch sehr erfreut sind. Ich lasse sie erzählen, wie es ihnen geht. Eine Frau ist schwer sehbehindert geworden und doch dankbar für alles, was sie noch machen kann. Mit Hilfe eines Gerätes kann sie noch lesen. Die über 90-Jährige sagt, die Zeitung interessiere sie immer weniger, dafür lese sie jetzt umso mehr in der Bibel. Dann besuche ich einen Mann, dessen Frau ich schon beerdigt habe. Er ist bettlägerig und kann nur noch undeutlich sprechen. Trotzdem teilt er seine Gedanken mit mir, z.B. über die Frage, warum Gott Kriege zulässt. Allen, die ich besuche, lese ich aus der Bibel vor. Heute habe ich kurze Passagen aus verschiedenen Psalmen ausgewählt. So heisst es z.B. im Psalm 36: Denn bei dir ist die Quelle des Lebens und in deinem Lichte sehen wir das Licht. Am Schluss bete ich mit ihnen noch das Unservater. Ein Gebet, das alle mitsprechen können und das immer passend ist.

Zwischen den Besuchen blicke ich aus dem Fenster und merke, wie sich das Licht draussen langsam verändert. Um halb Elf trete ich nach draussen, um mit dem Fahrrad zu meinem nächsten Termin zu fahren. Das Licht taucht die Umgebung in eine fast magische Stimmung, es ist kühler und die Schatten sind weich. Das erinnert mich an 1999, als ich diese Stimmung in den Engadiner Bergen erleben durfte, mein Sohn war damals ein paar Monate alt. Heute kann er das Schauspiel am Gymnasium mitverfolgen.

Auch wenn ich nicht in die Sonne schauen kann, fühle ich mich auf eine besondere Weise berührt und erfüllt. Während ich durch die Strassen fahre, freue ich mich, diesen besonderen Moment doch irgendwie erleben zu dürfen. Und ich bin auch froh, diesen Morgen auf eine sinnvolle Art verbracht zu haben – sinnvoll und bereichernd für mich und wohl auch für andere.