In den letzten Wochen gab es bei uns im Dorf eine Anhäufung von Todesfällen vor allem hochbetagter Menschen. Ich habe demzufolge innerhalb von 5 Wochen ganze 9 Beerdigungen durchgeführt, während normalerweise 1 – 2 Beerdigungen pro Monat oder weniger die Norm sind.
Jetzt, da ich mal eine Verschnaufpause habe, merke ich, dass es neben der vielen Arbeit für mich auch eine Bereicherung war. Nicht umsonst ist die Beerdigung die Kasualhandlung, die ich am liebsten mache. Die Begegnung mit den Trauernden, das Einlassen auf ihre Gefühlswelt, das Mitfühlen und Mitgehen, die Einstellung auf den verstorbenen Menschen und dessen Lebensweg und schliesslich die konzentrierte und würdevolle Gestaltung der Feier – das alles ist für mich jedesmal eine Herausforderung , vor der ich Respekt habe und die ich gerne annehme.
Ich durfte wieder viele Menschen kennenlernen und sie in einem besonderen Moment ihres Lebens ein Stück weit begleiten.
Dabei erlebte ich vieles, das mich bewegte und beeindruckte. Ich denke an die beiden Schwestern, die eine Woche nach ihrem Vater auch ihre Mutter beerdigen mussten. Ich denke an das selber nicht mehr ganz junge Paar, das den über 90-jährigen Vater der Frau bei sich aufgenommen und liebevoll betreut hatte. Ich denke an die vier Geschwister, „Scheidungskinder“, die erst als Erwachsene den Kontakt zum Vater wieder fanden und sich in seinem Alter um ihn kümmerten. Ich denke an die Frau, die von ihrer ledigen Tante dazu ausersehen wurde, sich im Alter um sie zu kümmern und die Zeugin ihrer tiefen mystischen Erlebnisse werden durfte. Und ich denke an die Eltern, die ihre Tochter beerdigen mussten.
All diese Personen konnten trotz ihrer Trauer und Bewegtheit tapfer und würdig den Weg des Abschieds gehen.
Bei Trauergesprächen wird meistens sehr positiv von den Verstorbenen gesprochen. Das finde ich auch richtig so. Im Moment des Abschiedes sieht man vor allem die Qualitäten eines Menschen, seine positiven Eigenschaften, das, was er oder sie für andere getan hat, das Gelungene und Besondere dieses Lebens. Auch die anderen, vielleicht schwierigeren Seiten eines Menschen werden in diesem Licht gesehen. Ja, der Vater war ziemlich streng, manchmal auch zu streng, höre ich manchmal – aber ich spüre bei den Hinterbliebenen Trauer, Liebe, Dankbarkeit und Respekt vor diesem Menschen und seinem Leben, vielleicht auch so etwas wie Vergebung.
So ist es auch keine Heuchelei, wenn ich sage: Jedesmal, wenn ich vor einem Grab stehe, verneige ich mich innerlich vor diesem Menschen und seinem Lebensweg. Kein Mensch ist ein Versager. Kein Lebensweg ist ganz gescheitert. Angesichts des Todes fällt das Licht des Guten auf jeden Menschen und auf jedes Leben.
Gerade auch die Verstorbenen sind es, die mich beeindrucken, ja, von denen ich auch jedesmal etwas lernen darf.
Viele Lebensläufe der Generation, die in den 1920er Jahren geboren wurde, ähneln sich: Sie mussten schon als Kinder auf dem Hof der Eltern hart mit anpacken, nach der Schule hiess es für die Frauen Welschlandjahr, für die Männer Militärdienst; wer privilegiert war, konnte sogar auch eine Lehre machen. Später Familiengründung, die Schaffung eines bescheidenen Eigenheimes durch harte Arbeit; die Frauen haben mit Stricken, Häkeln und Nähen die Familie eingekleidet, sie aus dem eigenen Garten ernährt und nebenbei durch Putzen noch ein paar Franken dazuverdient, die Männer waren oftmals in Vereinen oder Kommissionen aktiv. Später kommen die Enkelkinder, das Pensionsalter, ein paar Reisen zu zweit, die ersten Altersgebrechen, Altersheim…und irgendwann das „friedliche Einschlafen“.
Als Frau von heute muss ich zugeben, dass ich mir ein solches Leben nicht gewünscht hätte. Aber ich habe grosse Hochachtung vor diesen Menschen, die ihr Leben unter solchen Umständen gelebt und gemeistert haben, die sich bemüht haben, ihr Bestes zu geben, im Beruf, der Familie, dem Verein, als treusorgende Mutter oder arbeitsamer Vater. Wichtig sind am Schluss die schönen, erfüllten Momente, die guten Erinnerungen, die bleiben werden, die Dankbarkeit für das, was sie für ihre Mitmenschen getan haben.
Manchmal gibt es auch Besonderheiten. Ich denke an die Frau, die in einem Motorradladen aufgewachsen ist und schon in jungen Jahren den Auto- und Motorradausweis gemacht hat. Eine Hundezucht wurde später zu ihrem Hobby und Lebenswerk. Eine andere Frau war in den frühen 50er Jahren eine der ersten Fahrlehrerinnen. Einen ihrer ersten Fahrschüler hat sie dann geheiratet. Ich denke an den Mann, der noch im Altersheim allen stolz eine alte Fotografie von sich als Turner zeigte, wie er einen Spagatsprung macht. Oder an den Mann, der filigrane Werke aus Holz fertigte, z.B. auch die Namen seiner Enkelkinder schnitzte.
Besonders beeindruckt hat mich eine Frau, die einen sehr starken Glauben hatte. Sie blieb zeitlebens ledig, arbeitete als Kinderkrankenschwester, wurde jedoch durch ihre schwache Gesundheit immer wieder eingeschränkt. Mit Hilfe ihres Glaubens konnte sie auch das bewältigen. Im „Ja“ zum Willen Gottes verliert das Leiden seine Macht, so schrieb sie in ihrem eigenen Lebenslauf. Gegen Ende ihres Lebens hatte sie tiefe spirituelle Erfahrungen. So sah sie einmal den Himmel offen und sagte dann, Gott sehe ja noch viel schöner aus, als sie immer gedacht hatte. Ihr Lebenslauf endet mit den Worten: Seid nicht traurig, denn ich durfte heimgehen und was gibt es Schöneres?
Von all diesen Menschen darf ich lernen: Ich lerne von ihrem Mut und ihrer Tapferkeit, von ihrer Art, wie sie ihr Leben durch Höhen und Tiefen hindurch bewältigt haben, von ihrer Wohltätigkeit, ihrer Selbstlosigkeit, Fürsorglichkeit und Liebe, von ihrer Lebensweisheit und manchmal auch von ihrem Glauben und ihrer Spiritualität.
Fast alle dieser Menschen konnten ihr Leben im hohen Alter abschliessen und abrunden. Bis auf eine Ausnahme: Ich musste auch eine Frau beerdigen, die im Alter von 32 Jahren auf tragische Weise ums Leben gekommen ist. Diese Frau hat mich am meisten beeindruckt.
In einer gewissen Unerschrockenheit ist sie mit knapp 16 Jahren für ein Auslandsjahr nach Alaska geflogen. Tief beeindruckt von der dortigen wilden Natur ist sie später immer wieder dorthin zurückgekehrt. Doch vor allem war sie eine sehr hilfsbereite und wohltätige Frau. Sie arbeitete bei der Feuerwehr, spendete viel an wohltätige Organisationen und Hilfswerke und hatte geplant, sich beim Schweizerischen Katastrophenhifskorps zu engagieren. Und sogar durch ihren Tod konnte sie noch wohltätig sein. Die Kollekte ihrer Trauerfeier zugunsten von „Ärzte ohne Grenzen“ ergab eine Rekordsumme. Und erst vor wenigen Wochen hatte sie entschieden, für den Fall der Fälle ihre Organe zu spenden. So konnte sie schliesslich drei Menschen ein neues, besseres Leben ermöglichen.
Vielen Menschen durfte ich schon einen letzten Dienst erweisen. Von ihnen allen durfte ich lernen. Von den Verstorbenen dürfen wir lernen fürs Leben.