Im Bus nach Monreale

Dieser Text erschien als Editorial auf den Gemeindeseiten in der Novemberausgabe 2023 der Kirchenzeitung „reformiert.“

Oberhalb von Palermo, nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, liegt der Ort Monreale. Hier befindet sich die Kathedrale Di Santa Maria Nova, ein faszinierendes Bauwerk im arabo-normannischen Baustil, den es nur in Palermo und Umgebung gibt. Die Wände sind über und über mit Mosaiken bedeckt. Kein Wunder, ist Monreale ein Magnet für den Tourismus.

Von Palermo aus fährt ein Bus hinauf, der meistens überfüllt ist. In dieser Buslinie fährt jeweils ein Angestellter der Busbetriebe mit, der die Billette verkauft oder kontrolliert.

Ich war wie immer mit meinem Monatsabo unterwegs. Dieses besteht aus einer Plastikkarte mit Passfoto. In Palermo muss man aber jeweils auch noch die Kassenquittung vorzeigen, um zu beweisen, dass das Abo bezahlt wurde und aktuell noch gültig ist.

Normalerweise reicht es, dem Kontrolleur die Karte und die Quittung kurz unter die Nase zu halten. Nicht so in diesem Bus. Hier war ein besonders scharfer Kontrolleur unterwegs, der mit Argusaugen jedes Billet ganz genau unter die Lupe nahm.  

Ich zeigte dem Kontrolleur meine Karte und den Kassenzettel. Er nahm mir beides aus der  Hand. Mit den Augen eines Bussards im Sturzflug auf seine Beute fixierte er eine gefühlte Ewigkeit meinen Kassenzettel. Ich bereitete mich innerlich bereits darauf vor, eine Busse zahlen zu müssen – obwohl ich sicher war, ein gültiges Abo zu besitzen – bis mir der Kontrolleur mit einem knappen „apposto“ Karte und Quittung zurückgab. Ich atmete erleichtert auf und wischte mir in Gedanken den Schweiss von der Stirn.

Nun wurde die nächste Passagierin kontrolliert, eine dunkelhäutige, junge Frau. Auch sie zeigte ihr Abo und die Kassenquittung – diese allerdings als Handyfoto. Der Kontrolleur schüttelte den Kopf. Das sei so nicht gültig. Die Quittung müsse im Original vorgezeigt werden. Die Frau wollte das nicht akzeptieren. Es ergab sich eine heftige Diskussion. Doch der Kontrolleur blieb hart. Das Abo sei ungültig, sie müsse eine Busse zahlen oder den Bus verlassen. Die Frau regte sich immer mehr auf, sie zeterte und schrie. Bei der nächsten Haltestelle befahl ihr der Kontrolleur, auszusteigen. Sie aber weigerte sich. Der Streit wurde immer heftiger.

Ich fragte mich, wie die Situation wohl ausgehen würde. Da geschah etwas Unerwartetes:  Eine Frau, welche die ganze Zeit regungslos daneben gesessen hatte, zückte ihr Portemonnaie, nahm eine noch unbenutzte Stempelkarte heraus und überreichte sie wortlos der Frau. Diese stempelte sie und hatte hiermit ein gültiges Billet. Der Kontrolleur zog sich grummelnd zurück und im Bus wurde es plötzlich still.

Dieses Ereignis hat mich später noch lange beschäftigt. Ich fragte mich: Wenn ich selber ein unbenutztes Billet dabei gehabt hätte, hätte ich es der Frau gegeben? Wohl nicht, ich wäre schlicht nicht auf die Idee gekommen, die Situation auf diese Art entschärfen zu können. Dabei war es ganz einfach, was diese Frau getan hat: anstatt demonstrativ wegzuschauen und mit der Haltung „Es geht mich nichts an“ die Situation aus den Augenwinkeln zu beobachten, leistete sie ihren Beitrag, um das Problem zu lösen. Dafür brauchte sie nicht einmal Zivilcourage. Es genügte einfach etwas Geistesgegenwart, der Wille zu helfen und die Bereitschaft, auf 1.40 Euro zu verzichten, um jemanden aus der Patsche zu helfen und eine Situation für alle zu befrieden.

Manchmal bräuchte es einfach nur etwas Aufmerksamkeit für die Mitmenschen, für das, was um einen herum passiert – und der Wille, im Kleinen einen positiven Beitrag zu leisten. Es könnte so einfach sein…

„Wenn jeder etwas tut, kann viel getan werden.“

Dieser Text erschien als „Wort zum Sonntag“ im Thuner Tagblatt am 16. September 2023.

Gestern war der 15. September. Das mag eine banale Feststellung sein. Für die meisten von uns ist der 15. September ein ganz normales Datum.

Nicht so für die Menschen in Palermo, wo ich kürzlich zu einem Studienaufenthalt war. In Palermo ist der 15. September ein besonderes Datum. Der 15. September ist der Geburtstag des Priesters Pino Puglisi. Gleichzeitig ist es sein Todestag, der sich dieses Jahr zum dreissigsten Mal jährt.

Es ist kein Zufall, dass Don Pino gerade an seinem Geburtstag gestorben ist. Er wurde umgebracht. Von der Mafia, die natürlich extra dieses Datum dafür ausgesucht hatte. Es konnte ihr nicht kaltblütig genug sein.

Pino Puglisi war Priester in Brancaccio, einem Randquartier Palermos, das damals fest im Griff der Mafia war. Unter dem Motto „Wenn jeder etwas tut, kann viel getan werden“ leistete er dort intensive Jugendarbeit. Er gründete ein Begegnungshaus, in dem er den Kindern und Jugendlichen einen sicheren Ort bot. Dort kümmerte er sich um ihre Probleme und förderte ihre Fähigkeiten. Damit holte er die Jugendlichen von der Strasse und entzog sie dem Einfluss der Mafia. In seinen Predigten scheute er sich nicht, die Mafia zu kritisieren. Beides war lebensgefährlich.

Am 15. September 1993, seinem 56. Geburtstag, wurde er vor seinem Haus von Killern der Mafia abgefangen. Als er seine Mörder kommen sah, lächelte er und sagte: „Das habe ich erwartet!“. Dann wurde er erschossen.

2013 wurde Pino Puglisi zum Märtyrer erklärt und seliggesprochen. Dies war gleichzeitig ein starkes Zeichen der katholischen Amtskirche gegen die Mafia.

Als Pfarrerin berührt mich das Schicksal von Pino Puglisi ganz besonders. Im Prinzip tat er nichts anderes, als in seiner Gemeinde gute Arbeit zu leisten, für die Menschen da zu sein und das zu tun, was dort gerade nötig war. Das war damals Grund genug, ihn zu ermorden. Sein Beispiel zeigt, dass es je nach Kontext lebensgefährlich sein kann, das Evangelium glaubwürdig zu leben.

Das Begegnungshaus, das Don Pino gegründet hatte, gibt es heute noch. Inzwischen ist es ein grosses Sozialwerk, in dem wichtige Arbeit für Bedürftige geleistet wird – unter dem Leitsatz  „Wenn jeder etwas tut, kann viel getan werden“.

Morgen feiern wir den Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag. An diesem Feiertag steht vor allem die gemeinsame Sorge um das gesellschaftliche Zusammenleben im Vordergrund. In diesem Jahr heisst es in der Bettagsbotschaft der Reformierten Landeskirche:

Viele ermutigende Projekte, aber auch alltägliche Unterstützung von engagierten Menschen zeugen vom Willen, zu handeln. Sie überwinden die Gleichgültigkeit gegenüber Notleidenden mit Achtsamkeit, sie setzen sich für den Erhalt des ökologischen Gleichgewichts ein und sie kümmern sich um unsere Nächsten. Ihnen gebührt unser aller Dank, denn sie lassen uns täglich neu hoffen.

Zusammengefasst könnte man auch einfach sagen: „Wenn jeder etwas tut, kann viel getan werden.“ (Frauen sind natürlich mitgemeint). Wir alle sind dazu aufgerufen, uns einzubringen, uns einzusetzen für eine bessere Gesellschaft, je nach unseren Fähigkeiten und Möglichkeiten. Ob in Palermo oder in Thun – wenn wir alle etwas tun, können wir viel erreichen. Heute muss dafür glücklicherweise niemand mehr sein Leben riskieren. Was also hält uns noch auf?

Samichlous, du guete Maa…

Dieser Text erschien als „Wort zum Sonntag“ im Thuner Tagblatt am 3.12.22.

„Ich habe gehört, du passt im Ballett nicht auf!“, sagte der Samichlous* zu mir mit drohender Stimme – und alle lachten.

Es war bei der Weihnachtsfeier des Auslandschweizervereins. Jedes Kind musste einzeln vor den Samichlous treten und wurde von diesem gelobt oder gerügt. Ich fühlte mich blossgestellt und fragte mich: Was ist denn daran so lustig, wenn man im Ballett nicht aufpassen kann? Mit meinen 5 Jahren fiel es mir schwer, den Ausführungen der Ballettmeisterin zu folgen.

Schon damals habe ich geahnt, dass meine Mutter mich beim Samichlous „verrätscht“ hatte. Und je länger ich heute darüber nachdenke, umso fragwürdiger scheint es mir, den Samichlous als Erziehungsmethode missbrauchen zu wollen.

Die Figur des Samichlous geht auf den Bischof Nikolaus von Myra zurück. Dieser wirkte in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts in der kleinasiatischen Region Lykien, der heutigen Türkei. Über ihn als historische Person ist wenig bekannt. Dafür ranken sich zahlreiche Legenden um sein Leben.

Besonders beeindruckt mich diese Geschichte: Ein verarmter Mann beabsichtigte, seine drei Töchter zu Prostituierten zu machen, weil er sie mangels Mitgift nicht standesgemäß verheiraten konnte. Nikolaus erfuhr von der Notlage und warf in drei aufeinander folgenden Nächten je einen großen Goldklumpen durch das Fenster des Zimmers der drei Jungfrauen.

Wir wissen nicht, was an dieser Geschichte wahr ist. Erwiesen ist, dass Nikolaus wohlhabend war und sein ererbtes Vermögen unter den Notleidenden verteilte. Aus dem Ruf des Nikolaus, ein Wohltäter für die Armen zu sein, entwickelte sich der Brauch, an seinem Namenstag Kindern Geschenke in die Schuhe zu stecken. Früher waren es wohl Nahrungsmittel, später Süssigkeiten.

Im Laufe der Jahrhunderte hat sich die Figur des St. Nikolaus verselbständigt. Heute ist daraus der (konfessionell neutrale) Weihnachtsmann geworden. Er wohnt am Nordpol, betreibt dort eine Spielzeugfabrik und fliegt mit einem von Rentieren gezogenen Schlitten durch die Gegend, um seine Geschenke zu verteilen. Die rot-weisse Kleidung des Weihnachtsmannes stammt ursprünglich aus einer Werbung für ein weltweit bekanntes Süssgetränk. Aus dem wohltätigen Bischof wurde eine amerikanisierte und kommerzialisierte Kunstfigur.

Auch in diesen Tagen sind wieder überall die rot-weiss gekleideten Männer mit Rauschebart zu sehen. Besonders in den Fussgängerzonen sollen sie Kundschaft für die Warenhäuser anlocken. Kinder werden ungefragt mit Säcklein beschenkt.

Die Rute, mit der der Samichlous unartige Kinder schlägt, gehört zum Glück der Vergangenheit an. Der Samichlous wird heutzutage kaum noch als Druckmittel für die Erziehung missbraucht. Doch als Geschenkebringer für Kinder, die eigentlich schon alles haben, erscheint mir diese Figur ebenfalls fragwürdig.

Auch wenn ich den Kindern ihre Freude am Samichlous gönne, fände ich es schön, wenn sich zumindest die Erwachsenen auf den Ursprung dieses Brauches besinnen würden: Wohltätigkeit für diejenigen, die es wirklich nötig haben. Notleidende Kinder gibt es ja mehr als genug auf der Welt…

*Samichlous ist die schweizerdeutsche Bezeichung für den Nikolaus

Cervelat im Morgenrock

Dieser Text erschien als „Wort zum Sonntag“ im Thuner Tagblatt am 30.07.22

Meine Mutter, gebürtige Zürcherin, erzählte uns früher immer, dass in ihrer Kindheit die Schweiz die gleiche Nationalhymne hatte wie Grossbritannien, nur mit einem anderen Text. Und dass man manchmal aus Blödsinn sang: „Heil dir, Helvetia, Bratwurst und Cervelat.“ Im Raum Bern hiess es offenbar „hesch no ke Gaffe gha“.

Das zeugt ja nicht gerade von ehrbarem Patriotismus. Wenn ich mir aber den Text von „Rufst du, mein Vaterland“ so anschaue, in dem die Söhne, die Helvetia ja noch hat, freudvoll zum Streit schreiten und im frohen Todesstreich Wut wider Wut dem Schmerz spotten, dann habe ich Verständnis für die Verballhornung. Da ist mir die jetzige Hymne, die ohne jegliche Kriegsverherrlichung auskommt, doch um einiges lieber.

Aber ich muss gestehen, dass mein Verhältnis zur aktuellen Hymne zwiespältig ist.

Als ich sie kennenlernte, dauerte es einen Moment, bis ich begriff, dass mit dem Hocherhabenen, der im Morgenrock – Entschuldigung – im Morgenrot dahertritt nicht etwa das Vaterland gemeint ist, sondern niemand geringerer als Gott.

Gott ist es, der im Morgenrot, im Alpenglühn, im Nebelflor und im wilden Sturm daherkommt. Und nachdem die freien Schweizer zum Beten aufgefordert werden, ahnt am Ende jeder Strophe die fromme Seele Gott im hehren Vaterland.

Dieses Lied trägt den Titel Schweizerpsalm und ist eigentlich ein Kirchenlied. Es wurde im Jahr 1841 vom Zisterziensermönch Alberich Zwyssig komponiert und ist auch heute noch sowohl im reformierten als auch im katholischen Gesangbuch enthalten.

Der Text bringt eine wunderschöne Naturmystik zum Ausdruck. Gott kann in der Natur erfahren oder zumindest erahnt werden. Das ist eigentlich ein sehr schöner Gedanke. Wer hat noch nie das Gefühl gehabt, auf einem Berggipfel, im dichten Wald oder gar in einem tosenden Sturm etwas von Gottes Gegenwart spüren zu können? Insofern gefallen mir die romantischen Bilder des Schweizerpsalms. Doch was mich stört, ist das „Gott im hehren Vaterland“. Soll das bedeuten, dass Gott vor allem in der Schweiz erfahrbar ist? Hält er sich lediglich innerhalb unserer Grenzen auf? Ist Gott in anderen Ländern weniger präsent? Haben wir Gott für uns allein gepachtet?

Doch Gott findet sich nicht nur „im hehren Vaterland“, sondern überall auf der Welt. Gott kann auch im tropischen Regenwald erfahren werden, im Himalaya, in der Wüste Gobi oder auf dem tiefsten Meeresgrund. Gott findet sich in jedem Winkel dieser Welt, davon bin ich überzeugt. Und keine Nation innerhalb menschengemachter Grenzen kann Gott für sich allein beanspruchen. Die religiöse Überhöhung von Nationen, die Überzeugung, Gott auf der eigenen Seite zu haben, haben oft genug in der Geschichte schreckliches Leid ausgelöst.

Da gefallen mir die Varianten der Hymne in den anderen Landessprachen schon besser. Hier bleibt Gott schön brav im Himmel, wie z.B. in der französischen Fassung, in der Gott uns vom Himmel her segnet.

Sicher werde ich auch dieses Jahr an der Augustfeier den Schweizerpsalm mitsingen. Aber vielleicht werde ich am Ende lieber in Romanisch „Dieu in tschiel, il bap etern“ singen. Oder ich werde in der italienischen Version mit den bewährten Werten „libertà, concordia, amor“ die Helvetia ehren. Lassen wir Gott doch da, wo er/sie/es ist, wo immer das auch sei.

Hier kann der Text des Schweizerpsalms in den verschiedenen Landessprachen nachgelesen werden: https://de.wikipedia.org/wiki/Schweizerpsalm

Grüessech!

Dieser Text erschien als „Wort zum Sonntag“ im Thuner Tagblatt am 19.03.22

„Uf Widerluege und e schöne Tag!“ sagt die Verkäuferin beim Bäcker, nachdem sie mir das verlangte Brot über die Theke geschoben hat.

„Merci, glichfalls“, murmle ich und stolpere aus der Tür,  beinahe wäre ich noch mit jemandem zusammengestossen. Ich bin mal wieder im Stress. Schon wieder ein Tag, bei dem ich mit dem falschen Fuss aufgestanden bin! Und ich muss gleich weiter. Nachher habe ich eine Sitzung, danach schnell kochen, Abdankung vorbereiten, telefonieren und, und, und …

Doch plötzlich halte ich inne. Was hat die Verkäuferin zu mir gesagt? Sie hat mir doch gerade einen schönen Tag gewünscht! Und was mache ich? Ich stresse von einem Termin zum anderen, beachte nicht die Menschen um mich herum, merke nicht einmal, dass heute endlich mal wieder die Sonne scheint, kurz: ich tue alles andere, als diesen Tag zu einem schönen Tag werden zu lassen. Wie wäre es, wenn ich mir diesen Wunsch einmal so richtig zu Herzen nehmen würde? Da ist ein Mensch, der hofft, dass ich einen schönen Tag erleben möge. Das sollte mich doch eigentlich fast dazu verpflichten, selber dafür zu sorgen, dass dieser Tag auch wirklich schön wird. Sicher, meine Aufgaben muss ich trotzdem erledigen. Aber mit diesem Wunsch, der mir da auf den Weg gegeben worden ist, kann ich plötzlich vieles anders angehen. Dieser Tag könnte tatsächlich ein schöner Tag werden! Indem mir dies ganz bewusst ist, strahlt die Sonne ein bisschen heller, die Menschen um mich herum wirken freundlicher und der Tag ist ein bisschen weniger stressig.

Solche Wünsche werden ja täglich ganz selbstverständlich ausgesprochen. Man wünscht einander einen schönen Tag, einen guten Abend, ein schönes Wochenende, fröhliche Weihnachten oder frohe Ostern… Oft denken wir uns nicht viel dabei. Doch ursprünglich waren solche Wünsche Segenswünsche. In früheren Zeiten gab man sich einen Segen mit auf den Weg, wenn man einander begegnete. Heute noch bekannt sind die irischen Reisesegen:

Möge dein Weg dir freundlich entgegenkommen,

möge der Wind dir den Rücken stärken.

Möge die Sonne dein Gesicht erhellen

und der Regen um dich her die Felder tränken.

Und bis wir beide, du und ich uns wiedersehen,

möge Gott dich schützend in seiner Hand halten.

Das Reisen war damals eine gefährliche Angelegenheit, und mit dem Segenswunsch wollte man die Reisenden unter Gottes Schutz stellen.

Mit der Zeit ist von solchen Segenswünschen nur noch „Schöner Tag“ oder „Gute Reise“ übriggeblieben. Doch eigentlich ist jede Begrüssung bereits ein Segenswunsch: Im Hochdeutschen sagt man zur Begrüssung „Guten Tag“, genauso wie in den anderen Landessprachen: „Bonjour“, „Buongiorno“ oder „Bun di“. Unser berndeutsches „Grüessech“ bedeutet eigentlich: „Grüss Euch Gott“ – man hofft also, der oder die Angesprochene möge sich von Gott gegrüsst fühlen. Das ist doch eigentlich eine sehr schöne Vorstellung.

Ich bin dann an besagtem Tag in die Sitzung gegangen, habe gekocht, die Abdankung vorbereitet, telefoniert und noch vieles Andere erledigt. Auch wenn der Tag etwas gar vollgestopft mit Aktivitäten war, so konnte ich doch – mit dem Segenswunsch der Verkäuferin im Rücken – alles ein wenig gelassener angehen.

Es kann also gut tun, solche alltäglichen Wünsche einmal ganz wörtlich zu nehmen oder vielleicht sogar als Segenswunsch zu verstehen. Und ebenso gut tut es, solche Wünsche unseren Mitmenschen gegenüber mal ganz bewusst auszusprechen.

Also, wann immer Sie diese Zeilen lesen: Ich wünsche Ihnen aus tiefstem Herzen einen ganz besonders schönen Tag!

Solange die Erde steht…

Dieser Text erschien als „Wort zum Sonntag“ im Thuner Tagblatt“ am 6.11.21.

Es ist November geworden. Draussen ist es kühl, die Sonne hängt tiefer, und am Abend wird es bereits früh dunkel. Die Natur präsentiert sich noch einmal in ihren leuchtendsten Farben, bevor alles in winterliches Grau getaucht sein wird.

Auch unsere Lebensgewohnheiten haben sich verändert. Man kann nicht mehr so lange draussen sitzen, warme Jacken und Schuhe wurden wieder hervorgeholt, man bleibt wieder mehr zuhause, das Leben ist besinnlicher und ruhiger geworden. In dieser Zeit werden viele Menschen nachdenklich. Keine andere Jahreszeit führt uns so sehr die Veränderung und Vergänglichkeit des Lebens vor Augen. Nicht zufällig werden in dieser Zeit auch Ewigkeitssonntag und Allerseelen zum Gedenken der Verstorbenen gefeiert – in der dunklen Zeit des Jahres, bevor dann das Licht des Advents unser Leben erhellt.

Der Herbst als Übergang zwischen Sommer und Winter macht uns bewusst, dass unser ganzes Leben einem Rhythmus unterliegt: Sommer und Winter, Wärme und Kälte, Tag und Nacht, Werden und Vergehen.

Dieser Rhythmus der Natur wird in der Bibel in einem schönen Vers in der Noahgeschichte beschrieben. Als Noah nach der Sintflut mit seiner Familie und all den Tieren wieder an Land gehen kann, gibt Gott dieses Versprechen ab: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ (1. Mose 8, 22) Gott wird von nun an nie mehr die Erde zerstören, so böse die Menschen auch sein sollten. Gott ist der Garant dafür, dass der Rhythmus seiner Schöpfung immer weitergehen wird.

Der Rhythmus der Tage, der Wochen, der Monate und der Jahreszeiten prägt und gestaltet unser Leben. Er gibt uns Orientierung und Halt.

Tag und Nacht, Sommer und Winter sind Gegensätze. Und trotzdem – oder gerade deswegen – gehören sie zusammen, sie brauchen einander. Was wäre ein Leben ohne diese Pole, die einander abwechseln im steten Rhythmus? Es wäre wohl langweilig und eintönig. Der Wechsel zwischen Aktivität und Ruhe, Kontakt und Rückzug gestaltet unser Leben. Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht sind in ihrem ewigen Fortlauf in der Schöpfung angelegt. Wir dürfen daran teilhaben.

Es ist Herbst – eine Zeit der Veränderungen. Auch wenn wir uns vielleicht nicht auf die Zeit der Kälte und Dunkelheit freuen – akzeptieren wir auch solche Zeiten als Teil unseres Lebens! Licht und Dunkelheit, Wärme und Kälte, Aktivität und Ruhe, Freude und Leid – beide Seiten gehören zum Leben, verleihen ihm Erfüllung und Sinn.

Geniessen wir doch die Farben des Herbstes, freuen wir uns auf Abende in der warmen Stube, schauen wir vorwärts auf die glanzvolle Advents- und Weihnachtszeit, hoffen wir auf schöne Tage im Schnee.

Der Rhythmus des Lebens lässt uns darauf vertrauen: Selbst nach der schwärzesten Nacht wird wieder ein neuer Tag aufscheinen, und selbst nach dem kältesten Winter wird ein neuer Frühling erblühen.

Orte der Stille

Dieser Text erschien als „Wort zum Sonntag“ im Thuner Tagblatt am 19.06.21.

„Gehe an einen Ort der Stille und lasse dein inneres Wissen entstehen“.

Nein, das ist kein Gebot einer Heiligen oder eines Meditations-Gurus. Ich habe diesen Satz in einem Management-Buch gelesen. Auch bei Führungskräften ist die Erkenntnis inzwischen angekommen, dass das Aufsuchen von Orten der Stille eine innere Quelle sein kann. In diesem Fall wohl eine Quelle zu menschlicherer Personalführung, zu innovativerem Handeln oder einfach zur Burn-out-Prävention. Oder vielleicht tut es einem Menschen auch einfach gut, unabhängig davon, ob man nun ein grosses Unternehmen führt oder auf andere Art im Leben steht. 

Man muss also nicht unbedingt ein religiöser Mensch sein, um die Sehnsucht nach Stille in der Natur zu verspüren.

Auch mir selber tut es immer wieder gut, in meinem Alltag für einige Momente hinauszugehen und einen ruhigen Ort in der Natur aufzusuchen. In der Nähe meines Wohnortes gibt es ein Waldstück, durch das ein Bach hindurchfliesst. Dieser Ort strahlt für mich eine besondere Ruhe, ja ich könnte fast sagen: eine Art Heiligkeit aus. Auf einem Spaziergang zu diesem Ort kann ich einen Moment lang den Belastungen des Alltages entfliehen, die Dinge mit Abstand betrachten, neue Perspektiven gewinnen oder ganz einfach mal das Denken abschalten. Bei diesem knapp stündigen Gang konnte ich schon Lösungen für drängende Probleme finden, wichtige Entscheidungen treffen, neue Kraft tanken oder wenn nötig Trost und Hoffnung gewinnen. Ja, ich kann wirklich sagen: Es ist ein wichtiger Teil meiner Spiritualität, einen solchen Ort aufzusuchen.

In der Bibel gibt es viele Beispiele für heilige Orte. „Wahrhaftig, Gott ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht!“ rief Jakob aus, nachdem er im Freien geschlafen und von einer Himmelsleiter geträumt hatte. Jesus zog sich zum Fasten in die Wüste zurück und betete im Garten Gethsemane.

Viele heutige Menschen haben auf ähnliche Art ihre besonderen Orte. Wenn ich bei Taufgesprächen die Eltern nach ihrer Religiosität frage, kommt manchmal zur Antwort: „Ach, ich bin ja keine Kirchgängerin, aber ich habe da so meine Orte…“. Das Gehen an „Orte der Stille“ kann also auch für nicht explizit religiöse Menschen so etwas wie Spiritualität bedeuten.

Auch in unserer Region gibt es viele „Kraftorte“. Die zwölf Thunerseekirchen wurden ja teilweise an Orte gebaut, von denen man bereits in vorchristlicher Zeit glaubte, dass sie eine besondere Kraft ausstrahlen. Aber auch vermeintlich unscheinbare Orte können für einen Menschen Kraft oder eine besondere Stille ausstrahlen: Der Baum auf dem Hügel, der Bach am Waldrand oder ein bestimmter Platz am Seeufer. Vielleicht hat man an einem  bestimmten Ort etwas Schönes erlebt oder das Gefühl bekommen, sich dort besonders wohl zu fühlen. Und natürlich darf es auch eine Kirche sein. Immer mehr Menschen suchen in unseren Kirchen kurze Momente der Besinnung, auch wenn sie nie in Gottesdienste gehen.

Sicher werde ich bald wieder „meinen“ besonderen Ort aufsuchen, werde auftanken, abschalten, Freude oder auch Trost finden – und vielleicht sogar auch etwas von Gott spüren. Und Sie?

Weihnachtszeit 2020

Dieser Artikel erschien Ende November 2020 als Editorial auf den Gemeindeseiten der Kirchenzeitung „reformiert.“

Ich würde Ihnen jetzt gerne etwas Schönes und Besinnliches schreiben – von der schönen Adventszeit, der weihnachtlichen Stimmung, von freudigen, geselligen Anlässen und Begegnungen, die wir Ihnen als Kirche bieten, von der weihnachtlichen Freude, die in dieser Zeit unsere Herzen erfüllt. Ich würde gerne erbauliche Worte verwenden, die dazu einladen, diese Zeit ganz bewusst zu geniessen.

Stattdessen sitze ich jetzt hinter meinem Computer und bin ratlos. Was soll ich Ihnen bloss schreiben, jetzt, Ende Oktober? (Der Abgabetermin für die Texte der Gemeindeseite ist jeweils einen Monat im Voraus).

In den letzten Tagen wurden die neuesten Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie vorgestellt. Niemand weiss momentan, was im Dezember gelten wird. Wird die strenge Regelung des Kantons (Versammlungen nur bis 15 Personen) beibehalten? Oder werden Zusammenkünfte bis 50 Personen möglich sein? Oder müssen die Massnahmen gar verschärft werden?

Auf diese Fragen gibt es heute keine Antworten. Wenn Sie diese Zeilen lesen werden, wissen Sie sicher schon mehr. Aber wie soll ich Ihnen jetzt, einen Monat im Voraus, etwas Schönes, Besinnliches schreiben?

Klar ist: Diese Weihnachtszeit wird anders sein als in anderen Jahren. Sie wird von Einschränkungen und Verzichten geprägt sein. Die Geselligkeit, die vielen Zusammenkünfte, das gemeinsame Feiern wird teilweise gar nicht oder nur in eingeschränkter Form möglich sein. Von vielen geplanten Veranstaltungen ist nicht sicher, ob sie tatsächlich stattfinden werden. Mit dieser Situation müssen wir leben, und je eher wir sie als unabänderlich akzeptieren, desto besser werden wir damit umgehen können.  

Wir müssen uns also auf eine Weihnachtszeit einstellen, die anders sein wird als gewohnt.

Doch was können wir tun, wenn viele von unseren liebgewonnenen Traditionen dieses Jahr nicht möglich sein werden? Wie können wir Advent und Weihnachten feiern ohne Samichlausbesuch für die Kinder? Ohne Weihnachtsfeiern in der Firma und im Verein? Kein unbeschwerter Einkaufbummel, kein Adventssingen in vollbesetzten Kirchen, kein Chorkonzert in der Stadtkirche, kein Festessen im Kreise der Grossfamilie… Man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass solche Anlässe dieses Jahr nicht wie gewohnt stattfinden werden.

Was also bleibt uns noch von Advent und Weihnachten unter Corona-Bedingungen? Die Antwort lautet: Sehr viel!

Wir Kirchgemeinden geben uns alle erdenkliche Mühe, um Ihnen so viel wie möglich zu bieten. Mit viel Kreativität suchen wir nach anderen Formen, um mit Ihnen Advent und Weihnachten feiern zu können. Wir möchten niemand allein lassen in dieser Zeit, darum suchen wir nach Wegen, wenigstens etwas Geselligkeit und Begegnung zu ermöglichen. Wir sind gerade jetzt für Sie da: Sie können sich bei unseren Pfarrämtern melden und finden ein offenes Ohr.

Und auch Sie selber können vieles tun, um diese Zeit weihnachtlich zu gestalten.

Denn Advent und Weihnachten ist mehr als Weihnachtsfeiern, Konzerte und Festessen. Es sind schöne Traditionen, aber notfalls können wir darauf verzichten, ohne den wahren Sinn von Weihnachten zu beschädigen.

Denn die Botschaft lautet: Gott ist Mensch  geworden und kam auf diese Erde, um unter uns zu leben. Gott kam hinein in die Not der Welt, in einfache und armselige Verhältnisse, um das Schicksal der Menschen zu teilen. Durch das Kind in der Krippe sandte uns Gott die Botschaft: Eine heilvolle Welt voller Frieden ist möglich. Dieses Kind ist schon der Vorbote davon.

In der heiligen Nacht geschah etwas, das wir nur als Wunder und Geheimnis bezeichnen können. Dieses Wunder, dieses Geheimnis kann uns niemand nehmen. Der weihnachtliche Frieden soll in unsere Herzen einziehen – auch und gerade jetzt in diesem besonderen Winter.

Vielleicht sind wir in diesem Jahr gezwungen, uns auf das Wesentliche von Weihnachten zu besinnen, das Fest „abzuspecken“ und zu „entledigen“ von so manchem Ballast, der sich im Laufe der Jahrhunderte angesammelt hat. Und vielleicht ist das nicht einmal die schlechteste Variante, Weihnachten zu feiern.

Seien Sie also kreativ und flexibel, um Advent und Weihnachten neu zu entdecken. Und: Passen Sie gut auf sich auf, sorgen Sie für Ihr Wohlbefinden, achten Sie auf Ihre Mitmenschen und pflegen Sie herzliche und hilfreiche Kontakte im kleinen Kreis oder am Telefon.

Ich bin sicher: So kann das weihnachtliche Licht auch dieses Jahr in unsere Herzen einkehren.

Ostern 2020

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Ostersonntag. Ich zappe mich durch diverse Online- und Fernsehgottesdienste. Mich interessiert vor allem, wie sie gemacht sind. Es ist ja eine neue Form von kirchlicher Verkündigung, die jetzt plötzlich und ziemlich ungeplant Einzug gehalten hat. So ist es auch von sehr unterschiedlicher Qualität, was ich da zu sehen bekomme, besonders bei den Online-Formaten: Manchmal wurde einfach nur eine Kamera aufgestellt, ein Pfarrer hält einen Gottesdienst vor einer leeren Kirche, so als wäre alles wie immer. Andere Sendungen finde ich ansprechender: originell und professionell gemacht, gut aufgenommen und geschnitten. Man hat sich Mühe gegeben und sich etwas einfallen lassen, um dieser neuen Form gerecht zu werden.

Doch irgendwann an diesem Morgen wird es mir zu viel. Zu viel an Bildern, aber vor allem zu viel an Freudenbotschaft. Das fast atemlose Halleluja-Singen der Liturgen, die Vision von einer besseren Welt, die nach der Pandemie vermeintlich kommen wird, die überschwängliche Freude über das Erwachen der Natur gehen mir irgendwann auf die Nerven. Sicher, Ostern ist ein freudiges Fest. Das Leben ist stärker als der Tod – ja, damit bin ich einverstanden. Aber ich möchte mich auch heute mit meinen widersprüchlichen Gefühlen, meinem Unbehagen, meiner Angst, meinem Ärger und meiner Ungeduld abgeholt fühlen. Denn wenn ich genauer hinspüre, dann ahne ich, dass hinter diesen Gefühlen eigentlich etwas anderes sitzt, das manchmal hindurchschimmert, nämlich eine tiefe Traurigkeit über das, was momentan in der Welt passiert. Wenn ich mich dieser Traurigkeit stelle, sie wahrnehme und annehme – ohne sie dabei zu kultivieren – dann kann ich schliesslich auch das Schöne und Gute, das in dieser Zeit möglich ist, wertschätzen. Ostern heisst für mich nicht: Alles wird gut, sondern: Das Licht scheint in der Finsternis. Denn die Finsternis ist noch da, die Welt unvollkommen. Das wird selten so deutlich wie jetzt. Und das möchte ich auch an Ostern nicht weggewischt oder gar weggejubelt haben.

Am Nachmittag schwinge ich mich aufs Rad und fahre in die Landschaft rund um meinen Wohnort. Die Natur mit den blühenden Bäumen wirkt auf mich tröstlich. Gerade jetzt brauche ich Trost. Und denke: Wer jetzt keinen Trost braucht, ist wohl nicht ganz bei Trost.
In einem Dorf besuche ich eine Kirche, die ich bis anhin nur vom Vorbeifahren kannte. Als ich auf das Portal zugehe, prangen mir in grossen Buchstaben die Worte GLAUBE HOFFNUNG LIEBE entgegen. Diese drei Wörter treffen mich in diesem Moment im Innersten und berühren mich zutiefst, viel mehr, als es eine theologisch brillante Predigt oder eine profunde Liturgie gekonnt hätten. GLAUBE HOFFNUNG LIEBE – das reicht mir schon, um mich verstanden und getröstet zu fühlen. In der Kirche zünde ich eine Kerze an und werde einen Moment still.

GLAUBE HOFFNUNG LIEBE. Einfache Begriffe, und doch umfassen sie so viel. Sie sind wie Kraftquellen, die uns helfen können, im Schwierigen zu bestehen und Sinnlosigkeit auszuhalten. Vielleicht gerade darum, weil sie nicht eine heile Welt suggerieren. Bezeichnend ist der Kontext, in dem sie stehen. Es heisst: Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe… Sie sind das, was noch bleibt, nachdem wir erkannt haben, dass all unser Wissen Stückwerk ist, dass wir die göttliche Wahrheit jetzt nur sehen können wie in einem trüben Spiegel.* Der Text wird der Tatsache gerecht, dass wir in einer unvollkommenen Welt leben und dass all unser Wissen und Streben unvollkommen bleiben wird.

Mit dem warmen Gefühl, getröstet zu sein, verlasse ich die Kirche. Ich fahre nach Hause mit dem Gedanken: Jetzt ist für mich wirklich Ostern geworden.

2020-04-12 16.47.09*1. Korintherbrief 13; 9, 12-13

Diario Bolognese: Ein Jahr später

Nie hätte ich gedacht, dass mein Blog „Diario Bolognese“ noch einmal eine Fortsetzung finden würde – und schon gar nicht eine so traurige.

Ein Jahr ist es jetzt her, seitdem ich mich zu einem 2-wöchigen Sprachaufenthalt auf den Weg nach Bologna gemacht habe. In letzter Zeit gehen meine Gedanken wieder vermehrt in Richtung Italien und nach Bologna. Die Nachrichten aus Italien sind schockierend und machen mich sehr traurig.

Die Stadt Bologna, in der ich eine so schöne Zeit verbracht habe – wie mag es jetzt wohl dort aussehen, so fest im Griff der Ausgangssperre? Die Piazza Maggiore – leergefegt. Die Gässchen mit den Spezialitätenläden, das Uniquartier – menschenleer. Das quirlige, lebendige Bologna als Geisterstadt kann ich mir nicht so recht vorstellen. Auf der Facebookseite „Bologna Inside“ habe ich ein paar Bilder gesehen:

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Wie sehr habe ich mich noch letzten Herbst gefreut, als die Bilder von der Bewegung der „Sardinen“ von Bologna aus durch die Welt gingen. Unter dem Hashtag #Bolognanonsilega hatten sich viele Menschen auf der Piazza Maggiore versammelt – eng zusammenstehend wie Sardinen in der Dose – um gegen Salvini zu demonstrieren. Ein Bild, das jetzt wohl noch für lange Zeit unmöglich sein wird.

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Und wie mag es wohl den Menschen gehen, die ich damals kennengelernt habe?
Vor einigen Tagen habe ich Anna, meiner „Schlummermutter“ eine Mailnachricht geschrieben. Dass ich viel an sie denke und an die schöne Zeit in Bologna; dass die Nachrichten aus Italien mich sehr traurig machen. Und dass ich hoffe, es gehe ihr gut und sie sei gesund. Und am Schluss noch ein „Dio te tenga“ und „molto abbracci e baci“ an sie und ihren Kater.
Sie hat mir geantwortet, sie freue sich sehr von mir zu hören. Sie sei gesund wie auch alle anderen Leute in ihrem Bekanntenkreis. Aber sie sei „un po triste“. Ihren Blumenladen musste sie am 12. März schliessen.

Ob sie ihn je wieder wird öffnen können? Ob sie ihre Wohnung behalten kann? Solche Gedanken beschäftigen mich jetzt sehr. Was macht diese Krise aus Italien und seinen Menschen? Werde ich dieses Land einmal wieder so vorfinden, wie ich es kennen- und liebengelernt habe? Wird sich das Nord-Süd-Gefälle weiter verstärken? Der Populismus noch mehr erstarken? Oder wird Italien wieder neu aufleben können, wenn alles durchgestanden ist? Und wann wird das sein?

Die hässlichen Diskussionen zwischen Italien und Deutschland um die Eurobonds erschüttern mich. Ich hoffe, dass die dringend notwendige europäische Solidarität bald greifen wird. (Auch die Schweiz dürfte sich noch etwas solidarischer zeigen). Aber etwas mehr Sachlichkeit in der Diskussion wäre für alle heilsam.

Meine persönlichen Pläne bezüglich Italien musste ich ändern. Ende April wäre ich wieder zu einem Sprachaufenthalt aufgebrochen, dieses Mal nach Verona. Ich konnte den Kurs auf Ende August verschieben. Ob bis dann wieder eine Reise nach Norditalien möglich sein wird…? Momentan lerne ich Italienisch vom Sofa aus, was meinen Fortschritten nicht gerade sehr zuträglich ist. Aber ich bleibe dran.

Denn erst im Februar hatte ich den Plan gefasst, im Jahr 2022 meinen Studienurlaub anzutreten und in Palermo zu verbringen, um dort 3 Monate lang bei einem Hilfswerk mitzuarbeiten. Den Vorsatz, ein Mail mit einer Anfrage an das Hilfswerk zu schreiben – natürlich auf Italienisch – habe ich inzwischen wieder von meiner Pendenzenliste gestrichen. Die Leute dort haben jetzt sicher andere Probleme (z.B. die hungernde Bevölkerung zu versorgen) und wissen wohl selber nicht, was in 2 Jahren sein wird. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Meine Idee werde ich weiterverfolgen.

Nun hoffe ich sehr, dass Italien sich bald von diesem Drama erholen und eine Art Auferstehung erleben wird. Das gemeinschaftliche Singen der Menschen von den Balkonen, die vielen mutmachenden Voten wie „Tutto andrà bene“ oder „Ce la faremo“ und die Beleuchtung von Gebäuden in den italienischen Farben geben Kraft und Zuversicht.
Und im Blick auf mein eigenes Land, das im Verhältnis zur Bevölkerungszahl mit am schwersten betroffen ist, denke ich: Wir sitzen alle im gleichen Boot, wir sind alle eine grosse Menschheitsfamilie, wir sollten zusammenhalten, denn bewältigen können wir diese Krise nur gemeinsam.

Wie auch immer: Italien wird in meinem Herzen bleiben.

2020-03-31 18.03.41

P.S.: Meinen Blog „Diario Bolognese“ kann man jetzt im Zusammenhang und in der richtigen Reihenfolge lesen. Siehe https://nicolesblog.net/reiseblog-diario-bolognese/